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■ Die Erwerbslosenproteste sind hoffnungsvoll gestartet. Nun wird sich entscheiden, ob sie versanden oder ob sie weitergehen werdenWer zu brav ist, verliert

Die Erwerbslosenproteste im Februar und März waren ein Achtungserfolg – zumindest für deutsche Verhältnisse. Das französische Vorbild zündete und animierte knapp 50.000 Menschen zur Selbstorganisation, zu phantasievollen Aktionen und halbfertigen Forderungen. Die Politik reagierte – formal – aufgeschlossen. Die Öffentlichkeit war erstaunt, und die Medien begleiteten die Proteste durchaus ermunternd.

Folglich nahm Blüm ein paar Grausamkeiten zurück und zog die Bremse beim weiteren ABM-Abbau. Jetzt wurden sogar in Berlin 10.000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze angeboten. Es machte sich ein Hauch von politischer Verunsicherung breit. Die Gewerkschaften unterstützten die Aktionen wortstark, um dann bei den Tarifverhandlungen zu verstummen. Auch die materielle Unterstützung fiel bisher bescheiden aus.

Der dritte Aktionstag, morgen, am 8. Mai, steht auf der Kippe. Den Erwerbslosenprotesten geht die Puste aus. Der Zustrom der Erwerbslosen und der Sympathisanten läßt nach, geht sogar zurück. Man hat sich zur Demonstration getraut, fand es gut, hatte unterschwellig gehofft, jetzt komme langsam etwas in Bewegung. Nun sieht man, daß auch dieser Protestversuch zunächst keine Wirkung zeitigt. Noch eine Latschdemo im Mai und Juni, und man fürchtet, sich lächerlich zu machen. Gerade weil Kohl und Schröder für die Erwerbslosen fast nur marktwirtschaftliche Vertröstungen übrig haben und auch Rot-Grün für die Erwerbslosen wenig ändern wird, brauchen sie eine programmatische Stimme. Fragt sich: Woran liegt der mangelnde Erfolg der Proteste?

Erstens: Es gibt keine durchdachten, adressierten und öffentlichkeitswirksamen Vorschläge zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Die FranzösInnen haben zu Recht auf relativ einfache, scheinbar bescheidene, allgemein verständliche Forderungen gesetzt. Bei uns dagegen wurde die Rücknahme der Sozialkürzungen insgesamt gefordert, das Existenzgeld zum Fernziel und die Teilung von Arbeit zur Allerweltsformel erhoben.

Das hat die Öffentlichkeit weder verstanden noch überzeugt. Die berechtigte Forderung, daß im öffentlichen Dienst auch über neue Arbeitsplätze zu verhandeln sei, wurde nur kleinlaut erhoben. Die Tarifverhandlungen insgesamt für echte „Bündnisse für Arbeit“ vorzuziehen, wurde erst gar nicht erwogen. Genausowenig werden Kommunen und Länder mit Projektvorstellungen konfrontiert: beispielsweise mit Forderungen nach Arbeitsplätzen auf Kredit, kommunalen Beschäftigungsinitiativen oder der Aufwertung von ehrenamtlicher Arbeit zu halbprofessionellen Tätigkeiten.

Die zweite Schwierigkeit, mit der die Erwerbslosenproteste zu kämpfen haben, ist die Frage der Organisation und der Radikalität. Die gewerkschaftsnahen Initiativen waren von der Radikalität der Erwerbslosen ebenso überrascht wie von der plötzlich massiven Unterstützung der Gewerkschaftsspitze. Das hat dazu geführt, die potentielle Radikalität auf die Beschlußlage der Gewerkschaften zu verpflichten. Besetzungen und Belagerungen, ziviler Ungehorsam und provozierende Regelverletzungen gehören nicht zum gewerkschaftlichen Repertoire. Man organisiert brav eine Demonstration vor der Börse, aber weiß nicht so recht, was dort „rüberkommen“ soll – und ist froh, wenn alles ohne Zwischenfälle abgeht. Radikale Ruhe als erste Bürgerpflicht.

Die gewerkschaftsnahen Initiativen deshalb zu schelten wäre unfair und würde ihr Engagement verkennen – vor allem das der Bielefelder Koordinierungsstelle, die durchaus unkonventionelles Denken und Handeln befördert. Die gewerkschaftlichen Initiativen müßten freilich insgesamt lernen, den Spagat zwischen ihren Organisationen und außerinstitutionellen Protestformen auszuhalten. Sonst werden sie zu unfreiwilligen Bestattern einer Protestbewegung.

Den autonomen, zuweilen auch locker kirchlich angebundenen Aktionsbündnissen fallen die radikalen Rollen zu. Die Bewegung wird freilich nur erfolgreich sein, wenn die gewerkschaftlichen und die autonomen Initiativen sich auf eine kooperative Radikalisierungsstrategie verständigen – und sich nicht auseinanderdividieren lassen. Eine solche kooperative Radikalisierungsstrategie würde beinhalten, sich einerseits auf einen „Mindeststandard“ zu einigen (Forderungen, Veranstaltungen etc.). Das ist wichtig für alle, die sich einreihen wollen, und für ein inneres Band aller Proteste.

Aber dies würde auch eine Tolerierung radikalerer Formen bedeuten: für die „fürsorgliche Belagerung“ von Politikern, den demonstrierenden Besuch in Nobelvierteln, den regelverletzenden Aufruf an die Erwerbslosen, zur Demonstration zum Nulltarif schwarzzufahren, um die Grundrechte auf Mobilität einzuklagen (wobei die Bußgelder solidarisch zu übernehmen sind). Dazu könnte auch gehören, daß man bespielsweise mittels alternativer Messen versucht, die katholische Kirche als großen Arbeitgeber zum Versilbern mancher Immobilie zu bewegen – um dieses Geld zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu verwenden. Als die Erwerbslosen Karstadt zum Einkaufen auf gefälschter Gutscheinbasis besuchten, war das Zittern auf der etablierten Seite nicht zu übersehen.

Auf eine kooperative Radikalisierungsstrategie warten viele Erwerbslose, nicht nur in den Initiativen. Auch die Öffentlichkeit ist vermutlich weit eher bereit, die Erwerbslosen als politischen Faktor zu akzeptieren, als diese selbst annehmen. Andere Gruppen müßten rasch gewonnen werden: Obdachloseninitiativen, Schülerbündnisse, Prominente. Vor allem die Jugendlichen sind zentral, die bisher kaum repräsentiert sind. Die Arbeitslosigkeitsfrage von 1,3 Millionen jungen Leuten zwischen 15 und 25 Jahren zu verbinden, könnte einen ganz anderen Legitimationsdruck als bisher erzeugen.

In den 70er und 80er Jahren sind Erwerbslosenproteste pastoral und gewerkschaftlich eher mit dem Zugeständnis von Räumen und Kaffeemaschinen sowie einem Hauch von Protest stillgestellt worden – jetzt geht es in der Vorwahlzeit um ein kooperatives Konfliktmuster neuen Typs: programmatische Profilbildung und Radikalitätsschub mit Sympathieausweitung – so könnte die Devise lauten.

1994 wählten, kaum zu glauben, 28,4 Prozent der Erwerbslosen Kohl. Wenn es der aktuellen Erwerblosenbewegung auch nur ansatzweise gelingt, ihr Potenial auszuschöpfen, dann wird das Votum der Erwerbslosen 1998 radikal anders ausfallen. Peter Grottian

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