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Die Erfindung der Erinnerung

■ Der Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino liest im Literaturhaus

Ein Computer macht das täglich: Erinnerungsdepots anlegen. Das menschliche Hirn macht das auch täglich, sogar sekündlich, aber es hat ein Problem: das Vergessen. Die Auflösung des Gedächtnisses, so ahnt Erzähler W., macht aber aus dem Menschen einen gespenstischen, einen lächerlichen Menschen. Und weil er ein solcher nicht werden will, hat er sich eine Strategie überlegt. „Für den Fall, den ich leider kommen sehe, daß ich mich einmal mit der Vorstellung herumplage, das Leben sei spurlos an mir vorübergegangen, möchte ich auf die dann gut vorbereiteten Gedächtnisse meiner Freunde zurückgreifen können.“ So schreibt W. Briefe, damit ihm sein Leben eines Tages zurückerzählt werden kann. Vor allem das Nichtverstandene notiert er: W. erfindet Versionen seiner künftigen Vergangenheit.

Der 1943 geborene Wilhelm Genazino hat als Redakteur bei Pardon gearbeitet, zwölf Bücher und rund dreißig Hörspiele veröffentlicht. Standen seine frühen, soziologisch fundierten Angestellten-Romane in der Tradition des kritischen Realismus, überrascht er seit Ende der 80er mit poetischen, auf den Mikrokosmos des diskreten Voyeurs beschränkten Prosawerken. Genazino wurde zum Flaneur zwischen Außen- und Innenwelt; draußen registriert er, drinnen staunt er.

In der jüngst bei Rowohlt erschienenen Erzählung Das Licht brennt ein Loch in den Tag läßt der mehrfach preisgekrönte Autor seinen Erzähler nicht nur durch die Erinnerung, sondern vor allem durch den Alltag reisen. Das klingt banal, ist es aber nicht, weil die Archivierungsarbeit W. zwingt, Küchenhandtücher und Theaterbesuche vor seiner Folie der „Fehlgeborenheit aller Lebewesen“ neu zu interpretieren. Ein abgetragener Mantel scheint ihm da in der Reinigung plötzlich am besten aufgehoben, weil deren breites Schaufenster sie in ein Museum der Straße wandelt. Und der Anblick einer mit Blick aufs Meer scheißenden Katze beeindruckt ihn tief ob der „wahrscheinlich höheren Übereinstimmung zwischen Verdauung, Poesie und Abendfriede“. Metaphysische Abgründe, angenehm unprätentiös präsentiert.

Die Lesung heute verspricht interessant zu werden, besonders da Genazino gerne auch scharfe Worte über die geräuschlose Selbstaufgabe der Kulturpolitik verliert.

Christiane Kühl

Heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 19

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