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Die Entdeckung der LangsamkeitSchildkröten tragen die Welt

Unser Autor sucht in Peking nach dem Schildkrötenwesen Bíxí, findet aber noch ganz andere Dinge. Und ergründet dabei seine Fear of Missing Out.

Sie stehen hier schon seit vielen Jahren: Bíxís im Hof des Dong-Yue-Tempels Foto: Michael Brake

Der Dong-Yue-Tempel ist ein verwunschener Ort. Ein wenig rumpelig ist er, nicht so clean und aufgeräumt wie andere Tempelanlagen und Sehenswürdigkeiten in Peking.

In den Höfen der Anlage ist es ruhig, hier stehen alte Bäume, manche von ihnen sind so krumm, dass sie von bunt verzierten Holzpflöcken gestützt werden müssen. Die umlaufenden Wandelgänge bieten Einblick in Dutzende Kammern, in denen bunte Statuen taoistische Versammlungen nachstellen, Menschen und auch viele Fabelwesen: Wasser- und Berggötter, Schweinemenschen, Schneckenfrauen und Dämonenfratzen ohne Rumpf, nur auf einem Fuß stehend. Oft geht es um die Sünden der Menschen im Diesseits (das Übliche) und ihre Konsequenzen (wer mehr böse als gute Taten verübt hat, wird als Wasserbewohner wiedergeboren beispielsweise).

Ich bin hierhin gekommen, um nach Schildkröten zu suchen. Diesen Auftrag hatte mir eine Kollegin mitgegeben, als ich im Sommer für einen Monat nach Peking ging. Sie ist fasziniert von Schildkröten, hatte Menschen besucht, unter deren Dach mehr als 50 von ihnen leben, und einen Schildkrötenforscher interviewt – „Isst, wer Schildkröten isst, in Wirklichkeit die Zeit?“ war eine ihrer Fragen.

Und China ist ein Land, in dem die Schildkröte mythische Bedeutung erfährt, schon seit Jahrtausenden. Da gibt es Áo, 鳌. Als in früher Vorzeit der Wassergott Gonggong einen Kampf verloren hatte, zerschlug er vor Wut und Verzweiflung mit seinem Kopf eine der Säulen des Himmels. Die Schöpfungsgöttin Nüwa musste, einer Trümmerfrau gleich, das Schlamassel reparieren. Sie tötete die riesige Schildkröte Áo, schnitt ihr alle vier Beine ab und stützte damit Himmel und Erde.

Die Schildkröte steht für den Norden und den Winter

Dann gibt es die Sì Ling, die vier glücksverheißenden Tiere. Das sind ein Drache, ein Feuervogel, die Ochsen-Karpfen-Hirsch-Löwen-Chimäre Qilin, und eben die Língguī, 灵龟, was so viel wie Geisterschildkröte bedeutet. Als einziges der Sì Ling ist sie einem echten Tier nachempfunden. Auch unter den Sì Xiàng, die in der chinesischen Astronomie die vier Himmelsrichtungen symbolisieren, findet sich eine Schildkröte, eine schwarze: Xuán Wǔ, 玄武, sie steht für den Norden und für den Winter.

Die Schildkröte ist ein langsames Tier. Vielleicht ist sie entspannter, weil sie so lange lebt. Fear of Missing Out ist letztlich nur die Angst vor der eigenen Endlichkeit.

Und schließlich gibt es Bìxì, 赑屃, einer der neun Söhne des Drachenkönigs, ihn will ich finden. In und um Peking kann man ihm an mehreren Stellen begegnen: im Konfuzius-Tempel beispielsweise, an der Marco-Polo-Brücke, bei den Ming-Gräbern weit vor den Toren der Stadt. Doch ich wähle den Dong-Yue-Tempel, denn er ist nur gut einen Kilometer von meiner Wohnung entfernt und am Tag meiner Suche ist es 34 Grad warm. Eine trockene Hitze ist es, die einen erdrückt, wenn nicht gerade ein leichter Wind weht.

Angemessen wäre es nun, in den Schildkrötenmodus zu wechseln: Gemächlich zum Tempel spazieren, vielleicht noch eine Pause auf dem Weg einlegen, eine kleine Flasche Nongfu-Spring-Wasser an einem Kiosk kaufen für zwei Yuan. Doch ich fahre mit dem Fahrrad, mit einem dieser playmobilartigen Leihräder, die millionenfach auf Pekings Straßen stehen. Denn ich habe es eilig. Ich bin spät dran.

Ich habe es überhaupt oft eilig. Habe ich einmal viel Zeit, nehme ich mir so viel vor, dass am Ende doch wenig von ihr übrig bleibt. Immer habe ich Sorge etwas zu verpassen. Fear of Missing Out nennt man das auch. FOMO. Für den Schildkrötenmodus reicht die Zeit dann nicht mehr.

Von geduldiger Ungeduld und ungeduldiger Geduld

Als leicht gehetzter Mensch fiel mir schnell auf, welch erstaunlich langsames Grundtempo Peking für eine Stadt ihrer Größe besitzt. Fast immer ging ich schneller als alle anderen, selbst wenn ich es mal nicht eilig hatte. Dabei sind die Menschen in Peking nicht ziellos. Sie sind nur sehr effektiv. Sie nutzen jede Lücke beim Anstehen, schneiden jede Kurve, schlüpfen über rote Ampeln, selbst an Kreuzungen achtspuriger Straßen. Eine geduldige Ungeduld würde ich es nennen: Man will keine Zeit verlieren, aber deswegen lässt man sich noch lange nicht hetzen. Wenn eine Rolltreppe fährt, warum sollte man sie nicht benutzen?

Ich dagegen neige zu einer ungeduldigen Geduld: Selbst wenn ich es mal nicht eilig habe, muss ich mich beherrschen, um mich von Verzögerungen nicht reizen zu lassen. Lieber steige ich die leeren Treppen neben der Rolltreppe hoch, als untätig herumzustehen.

Mein großes Glück bei alldem war, dass es ein langer und umständlicher Weg war, bevor ich in Peking Leihfahrräder nutzen konnte. Die ersten beiden der vier Wochen lief ich zu Fuß – viele, viele Schritte waren es, 253.714, sagt meine Schrittzähler-App – und kam dem Schildkrötenmodus so ein wenig näher. Und den braucht man, um von einer fremden Stadt auch die Details sehen zu können.

Die Krähe sieht nur, wer langsam geht

Nur wer langsam ist, bemerkt aus dem Augenwinkel, dass in der zur Straße offenen Küche des Western-Mahua-Schnellrestaurant gerade Nudeln frisch zubereitet werden, und bleibt stehen, um zu schauen. Ein Koch zieht einen großen Klumpen Teig in immer längere, dünnere Stränge, legt sie immer wieder aufeinander, zieht und zieht, bis am Ende nudeldünne Streifen entstehen. Ein Wunder ist, dass es niemals reißt.

Nur wer langsam ist, hört die Krähe im Hutong neben dem Kohlenhügel seltsame Geräusche machen und bleibt stehen, um ihr genauer zuzuhören. Ein anderer Vogel, ein bläulich-brauner mit einem langen Schweif, kommt dazu, streift die Krähe fast – will er die sie verscheuchen? – und lässt sich über ihr im dichten Strang der oberirdischen Elektroleitungen nieder. Er singt melodiöser und wechselt mehrfach die Etage. Die Krähe bleibt auf ihrem Platz. Beide schauen in die gleiche Richtung. Was mögen sie nur sehen?

taz am wochenende

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Nur wer langsam ist, bemerkt die Besonderheiten im Pekinger Stadtmobiliar. Die Reisigbesen etwa, die an den Wänden lehnen. Die besondere Beziehung der Chinesen zu Feuerlöschern. Und dass die parkenden Autos oft Holzplatten vor den Reifen stehen haben. Warum? Damit die Hunde nicht gegen die Radkappen pinkeln.

Die Schildkröte geht auch nicht schnell. Sie ist ein langsames Tier. Vielleicht ist sie entspannter, weil sie so lange lebt. FOMO ist letztlich nur die Angst vor der eigenen Endlichkeit. Dass man nicht ausreichend viel sehen, machen, erfahren, erleben wird, bevor man stirbt.

Der Körper einer Schildkröte, aber der Kopf eines Drachens

Nachdem ich mich im Dong-Yue-Tempel an den taoistischen Versammlungen satt geguckt hatte, mache ich mich auf die Suche nach Bìxì. Zunächst finde ich ihn dreifach nebeneinander stehend, von hinten auf eine Art Pinnwand blickend, fast unwürdig versteckt, wie mir scheint. Der Panzer: eindeutig eine Schildkröte, die gleichmäßige Struktur der Platten. Die Beine sind muskulös und vom Körper abgewinkelt, wenig schildkrötenlike. Bìxìs Zähne sind stets deutlich zu sehen, seine Nase ragt weiter vor als seine Stirn, seine Augen sind stechend: Sein Kopf ist der eines Drachen.

Ein Wald aus Stein und Marmor Foto: Michael Brake

Neun Söhne hat der Drachenkönig, so heißt es, alle sind halb Drachen, halb ein anderes Wesen. Alle haben traditionell spezielle Plätze: An den Ecken eines Dachfirsts, auf Glocken sitzend, am Griff eines Schwerts. Bìxì findet man auf Gräbern. Er trägt meterhohe, beschriebene Stelen, die von schlangenhaften Ornamenten gekrönt sind. Wie hier im Dong-Yue-Tempel. Aber auch in Korea, Japan, Vietnam und der Mongolei findet man Schildkröten, die Stelen tragen.

Es dauerte einige Zeit, um zu realisieren, woran mich das alles, diese Form der Schnauze, die gefletschten Zähne, die tiefliegenden Augen in Kombination mit dem massigen Panzer erinnern: An Bowser, den Oberbösewicht der Super-Mario-Spiele, mit denen ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte.

Es bleibt ein stetiges Ringen

Und es dauert noch ein wenig länger, um zu erkennen, dass das nur der Anfang ist. Zwei ganze Höfe sind Bìxì gewidmet – offiziell natürlich den Stelen, die er trägt. Beinahe hundert sind es, wobei manchmal die Tafel fehlt, oder der Bìxì oder Teile von ihm. Alle schauen nach Süden, manche grimmig, manche lächeln fast, und bilden einen verwitterten Marmorwald.

Im Dong-Yue-Tempel habe ich am Ende noch ein wenig mehr Zeit, weil ich mich vorher gehetzt hatte. Denn das macht es für mich noch schwieriger, in meinem ganzen FOMO-Schlamassel: Nicht nur will ich alles sehen – ich will auch noch alles in Ruhe ansehen, den Ort wirken lassen, es genießen. Und doch noch ganz viel anderes erleben. Vielleicht steckt in mir auch die Mischung aus halb Schildkröte, halb Drachen. Die eine will verweilen, der andere immer noch mehr. Es bleibt ein stetiges Ringen.

Als ich schon fast aus dem Tempel bin, es ist halb fünf, sie schließen gleich, gehe ich doch noch einmal zurück, einen letzten Blick auf die Schildkröten werfend. Da sehe ich erst, dass in einem Pavillon im Hof ein weiterer Bìxì steht, der größte von allen. Sein Mund ist aufgerissen, die Zahnreihe makellos und gerade. Fast wie die eines Menschen.

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