■ Die Deutschen haben wieder einmal gezeigt, dass sie nicht mit politischen Symbolen umgehen können. Bei den Feiern zehn Jahre nach dem Mauerfall sind die Bürgerrechtler eindeutig die Verlierer: Die Spuren werden verwischt
Hat man, in diesem Land, eine masochistische Freude, systematisch die schönsten Feste zu verderben? Die Deutschen hatten gestern die Chance, zehn Jahre danach, den Geburtstag des fantastischen, emotionalsten, wichtigsten und schönsten Ereignisses am Ende dieses Jahrhunderts zu feiern: den Fall der Berliner Mauer.
Während ganze Karawanen von Journalisten und Fotografen aus der ganzen Welt die Straßen Berlins schon seit Wochen bevölkern. Während alle Magazine sich der deutsch-deutschen Teilung und Annäherung in faszinierenden Rückblicken widmeten und spezielle Ausgaben herausbrachten. Und während, voller Emotionen, Millionen Fernsehzuschauer sich immer wieder, ohne müde zu werden, die Bilder ansehen, die schon längst zu Ikonen geworden sind. Was macht man da nun in Berlin? Man zettelte eine dieser großen, ausweglosen Debatten an, auf die sich nur die Deutschen so virtuos verstehen.
Nein, die Deutschen haben wirklich keine Begabung, mit Symbolen umzugehen. Ich hatte erwartet, naiv wie ich bin, am 9. November 1999 alle diese bekannten Köpfe wiederzusehen, die wir damals entdeckt hatten. Jens Reich, Bärbel Bohley, Sebastian Pflugbeil, Ulrike Poppe, Wolfgang Ullmann, Reinhard Schult, Konrad Weiss, Rainer Eppelmann ...
An ihre Türen hatten wir vor zehn Jahren geklopft, wir, die vielen ausländischen Korrespondenten, als wir wissen wollten, was sich hinter dem offiziellen und verschnörkelten Diskurs der Partei denn verbarg. Und wir wussten nie, wenn wir die Wohnungen verließen und dabei das kleine Auto entdeckten, das auf dem Bürgersteig vor dem Haus geparkt war (zwei Stasi-Agenten lagen auf der Lauer), ob wir diese Personen auch das nächste Mal in Freiheit wiedersehen würden.
Ich bewunderte ihren Mut und ihre Entschlossenheit, ihr Engagement und ihre Zivilcourage. Und ich freute mich, zehn Jahre später, sie alle wiederzusehen, ein wenig älter geworden, vielleicht ein wenig enttäuscht. Ich war neugierig zu erfahren, was aus ihnen geworden war – und wie sie zehn Jahre deutscher Einheit bewerten. Und was entdecke ich beim Lesen des Bundestagsprotokolls: Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Wolfgang Thierse, der mittlerweile zum Ostdeutschen vom Dienst geworden ist. Er behauptet übrigens, dass diese Redner ausreichten und es nicht nötig sei, noch andere einzuladen. Man hat fast den Eindruck, dass es unmöglich war, gerade ihn zu umgehen, da er Präsident des Bundestages ist.
Gerade aber die anderen, die wahren Akteure der Revolution, erhielten nicht das Recht, das Wort zu ergreifen. Unglaublich, aber trotzdem wahr. Selbst die Abgeordneten der Grünen haben es nicht gewagt, eine Gruppe von Anhängern des Neuen Forums auf die Besuchertribüne einzuladen, die ein Spruchband mit der Parole entrollen wollten: „Wir sind das Volk.“ Und Jens Reich gestand vorgestern Morgen, bevor er ein Flugzeug nach London bestieg, dass er erst am Vorabend der Feierstunde eine Einladung erhalten habe. „Ein wenig spät“, sagte Reich sehr leise.
Wütende Leitartikel. Aufgebrachte Positionen. Das Unglück ist geschehen. Nichtsdestotrotz versucht das Protokoll die Sache zu retten. Man lädt in der letzten Minute, als wollte man sich jetzt schnell entschuldigen, Joachim Gauck ein. Eine sichere Bank: Mitglied des Nachwende-Establishements, gut in Talkshows repräsentiert, gewandt und diplomatisch – von ihm war kaum eine disharmonische Rede zu erwarten. Und er hat die Erwartungen nicht enttäuscht.
Die Geschichte ist undankbar. Das ist nicht neu. Die Bürgerrechtler sind dabei die großen Verlierer. Sie sind auf der Verliererseite seit dem Frühjahr 1990, anlässlich der ersten freien Wahlen in der sterbenden DDR. „Zu idealistisch“, hörte man in Bonn. Und man amüsierte sich über diese Pastorentöchter und machte sich lustig über diese Pastorensöhne mit ihren Apostelbärten, den selbst gestrickten Pullovern und ihrer Lust, die DDR zu demokratisieren. Man lachte über diese Wissenschaftler, die ihre Labors verlassen hatten und unfähig waren, ein Modell einer kohärenten Gesellschaft anzubieten. Man machte sich lustig über diese Künstler, die in ihren Wohnungen chaotische Pressekonferenzen organisierten. Die Ergebnisse der Wahlen haben sie brutal von der Bühne gefegt.
Und die Festivitäten? Das ist kein Witz! Es war sogar notwendig, dass Jack Lang dem ratlosen Gerhard Schröder einige Ideen soufflierte. Der ehemalige Kulturminister von François Mitterrand – der sich in Deutschland eine neue Legitimation erwarb (zum Beispiel die nach Paris verlegte Love Parade und die Wahlhilfe für Gerhard Schröder vor den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr) – erzählt gern, dass er es war, der die gute Idee hatte – sehr gut, das muss man anerkennen –, eine Lichterkette zu bilden, um die Stelle, an der die Mauer stand, zu markieren. Denn was bleibt wirklich von der Mauer? Nichts oder fast nichts. Nur einige Meter nach hier und nach dort, die der Senat regelmäßig herausreißen lässt, um das Terrain auf den Baustellen des neuen Berlin frei zu machen. In der Bernauer Straße hat man die Mauer geputzt und will sogar eine kleine Aussichtsplattform errichten. Diese Inszenierung vemittelt nichts von dem Schrecken, den diese Grenze für die Menschen auf beiden Seiten bedeutete – ja, es wird ein harmloser Vergnügungspark werden.
Es ist ebenfalls Jack Lang gewesen, der, wie er mir sagte, daran gedacht hat, an Rostropowitsch am Fuße der Mauer zu erinnern und junge Leute zur Teilnahme an dem Fest einzuladen. Dank Jack Lang atmen so die Gedenkfeierlichkeiten für den Mauerfall ein wenig den 14. Juli.
Gestern bin ich auf den Spuren von damals gewandelt. Scheinbar liegt das derzeit nicht im Trend. „Hören wir auf, in die Vergangenheit zu schauen“: Das ist wohl ein Motto unserer Zeit. Ich bin in die Gethsemanekirche gegangen, in die Oderbergerstraße, auf den Alex, zum Checkpoint Charlie. Ich erinnerte mich an den tiefblauen Himmel über Berlin am Morgen des 10. November. Ich sagte mir, wie Millionen Berliner im Osten und im Westen, dass ich eine große Chance hatte: ein Stück Geschichte geteilt zu haben. Und ich habe mir vorgestellt, was sie auf der Tribüne des Bundestages hätten sagen können: Jens Reich, Bärbel Bohley, Sebastian Pflugbeil, Ulrike Poppe, Wolfgang Ullmann, Reinhard Schult, Konrad Weiss, Rainer Eppelmann und so viele andere ...
Pascale Hugues
Übersetzung: Barbara Oertel
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