piwik no script img

Die Chronik des 1. Mai 2008 in BerlinDas schöne Leben am Feiertag

Von der DGB-Demonstration über das Myfest bis zum Demo-Thriatlon in Kreuzberg. Impressionen von einem entspannten Tag. Bis zum Abend bleibt alles ruhig.

Die gewaltige Vergangenheit als Theaterkulisse: Fotowand auf dem Myfest in Kreuzberg Bild: reuters

1. MAI

10.00 Uhr, Platz des 18. März (Brandenburger Tor): Ein Ordner überlegt, ob er seine Kapuze aufsetzt. Es fängt gerade an zu gießen. Noch laufen nur Touristen über den Platz. "Von dort", der Ordner zeigt nach Süden, "kommt die DGB-Demo." Erwartet werden 10.000 Demonstranten, die für gute Arbeit marschieren. Der Ordner selbst verdient deutlich über dem Mindestlohn von 7,50 Euro.

11.00 Uhr, Straße des 17. Juni: Die Demo ist da. Einige tausend Menschen, darunter viele Ältere, versammeln sich um die Rednertribüne und die Bratwurst-, Bier- und Info-Stände. Der Regen lässt nach. Das hebt die Stimmung.

12.30 Uhr, Oranienstraße: Verkäufer reihen an ihren Ständen Bier, Caipirina und Limonaden nebeneinander auf. Köfte und Marmorkuchen werden drappiert. Einige feuern ihre Grills an, Rauchschwaden hängen in der Luft. Die ersten Neugierigen flanieren vorbei. Noch ist die Stimmung auf dem Myfest schläfrig.

12.40 Uhr, Platz des 18. März: BVG-Mitarbeiter stimmen auf der Hauptribüne das Lied an: "Wir sind stolz Busfahrer zu sein. Wir fahren unsere Schicht, das ist unsere Pflicht." Danach tragen sie ihre Sorgen vor: "Der Berufsverkehr, der macht das ganze auch nicht leichter." Zwei Frauen mit DGB-Ansteckern verlassen pikiert das Pressepodest.

13.00 Uhr, Oranienplatz: Die "Revolutionäre 1. Mai-Demonstration" der maoistischen, türkischen und kurdischen Gruppierungen beginnt. "Deutschland, verrecke, damit wir leben können", schallt es aus einem Lautsprecher. Grauhaarige türkische Herren in Jacketts stehen um ein Stoffbanner. Die Sonne kommt raus. Mehrere Aktivisten verteilen emsig Flugblätter und Zeitschriften ihrer jeweiligen linksradikalen Gruppe. Polizisten vom Anti-Konflikt-Team stehen am Rand. Einer beißt in ein Hanuta.

13.30 Uhr, Oranienplatz: Ein älteres Paar beobachtet das Treiben. Sie sind aus Wiesbaden zu Besuch. "Wir wollten uns das mal anschauen. Man kennt den Kreuzberger 1. Mai ja nur aus dem Fernsehen", sagt sie. Ihr Mann wedelt mit einem der Flugblätter. "Wir waren auch 68er. Einige Forderungen kann ich schon nachvollziehen."

14.10 Uhr, Oranienplatz: Der Maoisten-Zug setzt sich in Bewegung. Einige Hundert laufen mit roten Bannern und Fahnen die Oranienstraße hinunter. "Viva la revolucion!" schreit eine junge Frau schrill ins Mikrofon.

14.15 Uhr, in einer Durchfahrt hinter dem Kottbusser Tor: Ein kleiner Mercedes hält an, der CDU-Abgeordnete Kurt Wansner steigt aus. Ob er hier etwa zu parken gedenkt, direkt hinter dem Kotti? "Nein, natürlich nicht. Ich lade nur aus und bringe das Auto dann weg." Er holt einen schwarzen Grill aus dem Kofferraum, will sich mit ein paar Rindersteaks auf das Myfest stellen. "Ich bin jedes Jahr hier, das ist mein zuhause, ich bin schließlich in Kreuzberg geboren."

15.00 Uhr, Boxhagener Platz: Mit genau einer Stunde Verspätung startet die Mayday-Parade unter dem Motto "Be.Streik.Berlin - Her mit dem schönen Leben". Das lassen sich die 7.000 Teilnehmer nicht zweimal sagen: Die Sonne brennt, die Musik wummert, die Beine zappeln. Mit buntgeschmückten Wagen zieht der Zug in Richtung Mediaspree.

15.07 Uhr, Ankerklause am Maybachufer: Der Kottbusser Damm ist gesperrt. Mehrere Mannschaftswagen der Polizei fahren vorbei. Die Demo der Maoisten nähert sich. Die Cafébesucher recken die Köpfe. Ein kleiner Junge weint. Der Vater tröstet ihn. "Oioioi, so viele Leute!" - "Schau mal, ein Hubschrauber", sagt die Mama und zeigt nach oben.

Es geht heiß her am 1. Mai: Grillstand auf dem Myfest Bild: reuters

15.20 Uhr, Warschauer Straße/Ecke Grünberger Straße: Beim Mayday sind keine Einheitsparolen angesagt sondern Fragen. Der Hauptlautsprecherwagen verkündet: "Fragend fahren wir voran". Die Demonstranten machen mit - teilweise tragen sie vor Ort selbstgemalte Pappsprechblasen vor sich her. "Superprekär, superflexibel, sag mal gehts noch?", "Nieder mit der Arbeit - Diplomarbeit abschaffen", "Einstiegsgeld für alle" und "Ich.Stress: Karriere.Ego".

15.31 Uhr, Moritzplatz: Ein Schäferhund der Polizei schleckt aus einem Aluschälchen Kartoffelbrei, Möhrchen und Gehacktes. Das ist die Mannschaftsverkostung der Polizei für diesen Tag. Auf die Frage, ob das Essen nicht gut sei, sagt die Hundeführerin: "So gut, dass wir uns selbst was zu essen mitgebracht haben."

15.45 Uhr, Adalbertstraße: Eine gutgekleidete Mittvierzigerin sitzt auf einer Bierbank und teilt sich einen Döner mit ihrem Dalmatiner.

15.46 Uhr, Oranienplatz: "Wir sind heute erstmalig der Polizei unterstellt", verrät ein Mann vom Ordnungsamt. Für Festnahme sei man nicht zuständig, eher dafür, ob etwas verkauft wird, was von den Veranstaltern nicht genehmigt sei.

15.55 Uhr, Oranienstraße: Der TEK-Jugendladen verkauft Dreieckstücher. Darauf ist der Paragraf 17a aufgedruckt, der Vermummung verbietet. Im vergangenen Jahr gab es hier bedruckte Pflastersteine als Souvenir. "Die Stimmung ist pissig, es wird heute noch krass abgehen", ist die Prognose der Verkäuferin.

16.10 Uhr, Warschauer Brücke: Die Sprecherin des Kommunismus-ist-ein-Traum-Blocks der sozialistischen Falken fordert mit einem Schild die Demonstranten zum "Jump" auf. Mit Erfolg: Rund 200 Leute, die hinterher laufen, springen. Auch mit dem Schild "Lachen" funktioniert es: Alle machen mit.

16.14 Uhr, Mariannenplatz: Ein asiatischer Mann um die 40 schaut sich um. Er ist komplett in Grün gekleidet: Jacke, Weste, Mütze, Haare, Rucksack und Schuhe. Vor ihm im Sand liegt bäuchlings sein Hund mit einen grünen Luftballon am Halsband, darauf steht: ":Berlin grün".

16.15 Uhr, Künstlerhaus Bethanien: Draußen ist der Mariannenplatz rappelvoll. Drinnen haben die Grünen zur Diskussionsreihe "Mitreden, mitmachen" geladen. Eine Frau vom Wassertisch moderiert vor vier Zuhörern. Eine Frau geht weg. "Vorhin bei der Veranstaltung gegen den Ausbau der A100 war ich die einzige", verrät sie.

16.40 Uhr, Oberbaumbrücke: Als die Parade die Brücke erreicht, wird der Zug schlagartig noch belebter. "Das sind Kreuzberger, die sich weigern, nach Friedrichshain zu kommen", vermutet ein Demoorganisator.

16.41 Uhr, Mariannenplatz, St.-Thomaskirche: Ein alter, vollbärtiger Flaschensammler mit randvollem Einkaufswagen schiebt sich durch die Menge.

17.30 Uhr, Wrangelstraße: Der einzige McDonalds von Kreuzberg hat eben seine Pforten geschlossen. Bundespolizei steht vor der Filiale, als die Mayday-Parade vorbeizieht.

17.57 Uhr, Spreewaldplatz: Die Organisatoren der Mayday-Parade sind begeistern: "Das war die bisher größte und stimmungsvollste Parade, je es gegeben hat", sagt einer. 500 Meter weiter sammeln sich die Demonstranten für die Revolutionäre-1. Mai-Demo um 18 Uhr.

18.15 Uhr, Kottbusser Tor: Franz Schulz steht in Lederjacke zwischen den jungen Leuten in schwarzen T-Shirts, Punks und anderen Schaulustigen. Der Bezirksbürgermeister wartet darauf, dass die 18-Uhr-Demo beginnt. "Bis jetzt ist das eine super Fete", sagt Schulz.Er habe den Eindruck, dass die Leute weniger betrunken sind als im vergangenen Jahr. "Letztes Jahr um diese Zeit war die Mariannenstraße schon übersäht mit Flaschen und Glassplitern. Schauen Sie sich an, wie sauber das hier ist!"

18.20 Uhr, Kottbusser Tor: Männer und Frauen Flaschen sammeln Flaschen und Dosen ein. Auf der Rückseite ihrer orangenen T-Shirts ist ein Verbotszeichen mit einer zerbrochenen Flasche zu sehen und der Aufschrift: "Myfest gegen Flaschen". Das System funktioniert so, dass die Sammler mit einem Einkaufswagen zu Containern ziehen. Dort werfen andere die Flaschen in den Container und zählen. Für 10 Flaschen gibt es einen schwarzen Chip, der dem Wert von einem Euro entspricht. Die Chips können am Freitag beim Bezirksamt eingetauscht werden. Auf die Frage, wie viel man dabei verdienen kann, sagt der Chip-Verteiler am Container: "Darüber spricht man nicht."

18.30 Uhr Kottbusser Tor: Claudia Schmid, Chefin des Landesamts für Verfassungsschutz, steht in Jeansjacke inmitten von Autonomen im typischen schwarz. Sie sammelt eifrig Flugblätter.

Junges Volk mit schicken Perücken: Die Mayday-Parade in Kreuzberg Bild: reuters

18.55 Uhr, im Sol y Sombra, Oranienplatz: Die Kneipe gehört Christian Gäbler, dem parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Innensenator Ehrhart Körting, Sport-Staatssekretär Thomas Härtel, zwei Innen-Staatssekretäre, mehrer SPD- und Linkspartei-Abgeordnete sitzen dort beim Bier. Körting hat immer ein Auge auf dem Fernseher, wo das Spiel Petersburg gegen Bayern läuft. Es steht 1:0. Auf die Frage, für wen er hält, sagt Körting trocken: "Für die Polizei".

18.59 Uhr, Mariannenplatz: Eine Zwei-Mann-eine-Frau-Demo startet, alle um die 20 Jahre alt. Der erste der Gruppe trägt ein ein Meter großes, rundes Schild: "Every morning I wake up on the wrong side of capitalism". Sie laufen einmal über den Platz und tauchen dann in der Menge unter.

19.02 Uhr, im Sol y Sombra: Vor der Frauentoilette hat sich eine lange Schlange gebildet. Die Herren habens leichter. Sportstaatssekretär Härtel und die SPD-Abgeordneten Tom Schreiber und Thomas Kleineidam gehen zusammen aufs Urinal. Lage besprechen. Kleineidamm, als er das Klo verlässt: "Viel zu besprechen ist ja nicht. Die Lage ist ja zufriedenstellend."

19.03 Uhr, Mariannenplatz: Die erste Schlägerei: Fünf Zwölfjährige stapeln sich übereinander, dann hauen alle wieder ab.

19.08 Uhr, Sol y Sombra: Körting und seine Mitarbeiter verlassen die Kneipe Richtung Einsatzzentrale.

19.20 Uhr, Kottbusser Tor: Die "18-Uhr-Demo" startet - zuvor haben mehrere Redner gegen Mediaspree, Biosprit und den Irak-Krieg agitiert. Mehrere tausend dunkel gekleidete Menschen, viele aus dem europäischen Ausland, die Polizei spricht von 10.000, füllen den Platz vor dem Kottbusser Tor. In vier Sprachen werden die Demonstranten von den Sprechern auf dem Antifa-Truck instruiert. "Zusammen bleiben", heißt die Devise. Die Polizei hält sich zurück, Beamte sind nicht zu sehen.

19.23 Uhr, Mariannenstraße: Im zweiten Stock eines Altbaus öffnet sich ein Fenster, ein junger Mann mit nacktem Oberkörper schaut verwirrt auf das Volksfeststimmung auf der Straße. Er verschwindet kurz, um dann mit seinem Handy Fotos zu schießen.

19.45 Uhr, Heinrichplatz: Eine kritische Stelle: die revolutionäre 1. Mai Demo kreuzt das Myfest. "Leute lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein", brüllen die Demonstranten. Es bleibt friedlich.

19.50 Uhr, Waldemarstraße: Die Demospitze ist teilweise vermummt mit schwarzen Kaputzenpullis und Sonnenbrillen. Sie skandieren: "BRD, Bullenstaat, wir haben euch zum Kotzen satt". Ein Beutel mit grüner Farbe fliegt in Richtung eines Polizisten, der duckt sich, die Farbe klatscht auf den Bürgersteig.

20.03 Uhr, Wrangelstraße Ecke Skalitzer: Auf beiden Seiten der Wrangelstraße ziehen Polizeiketten auf, um McDonalds zu schützen.

20.21 Uhr, Wrangelstraße Ecke Skalitzer: Die Demo kommt zu dem Burgerladen. Böller knallen, die Menge applaudiert, die Leute ziehen weiter.

20.44 Uhr, Görlitzer Straße: Die Demo zieht vorbei. Die Sonne versinkt hinter der Kirche am Lausitzer Platz.

20.47 Uhr, Lausitzer Platz: Polizeipräsident Dieter Glietsch von rund 100 Leuten bedrängt, es flliegen Flaschen. Personenschützer sprühen CS-Gas in die Menge. Glietsch wird in eine Polizeiwanne gezerrt. Die wird mit Steinen beworfen. Ein Fahrrad, das die Straße blockiert, wird von der Wanne überrollt. Glietsch entkommt unverletzt.

ale, all, bis, ga, flee, juw, plu, tok

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!