ZWEI DÄMLICHE STINKSTIEFEL : Die Chose mit Ella
Immer wieder fängt sie an zu schimpfen. So wie es aussieht, kann und will sie an diesem schönen Herbsttag einfach nichts anderes tun, als auf dem Bürgersteig rumzustehen und zu nörgeln. Ihr nicht anwesender Bruder kriegt dabei am meisten Fett ab, zwischendurch fallen vernuschelte Beleidigungen über alle möglichen Passanten, wenn die zu lang gucken oder irgendetwas anhaben, das ihr nicht gefällt: „Scheiß oberbepisste Hose“, sagt sie, oder „Stinkstiefel, zwei dämliche Stinkstiefel haste an“. Aber ihre Familie, so viel steht fest, kann die meisten ihrer emotionalen Kommentare auf sich verbuchen. Allen voran ihr Bruder, von dem ich nach kurzer Zeit weiß, dass er „die ganze Chose mit Ella noch bitter bereuen wird“.
Innerhalb der letzten halben Stunde musste ich vier Mal an ihr vorbei über die Straße gehen, weil ich beim Einkaufen die Kaffeefilter vergessen hatte. Die ersten drei Mal bin ich noch relativ normal weitergelaufen, aber beim vierten Mal konnte ich einfach nicht anders, und jetzt stehe ich seit wenigen Minuten im Hintergrund und höre zu, während zu Hause jemand auf Kaffeefilter wartet. Ich bin ja kein Gaffer, der sich am Unglück anderer aufgeilt, aber irgendwann willst du halt einfach wissen, was zwischen Ella und ihrem Bruder gelaufen ist. Neben mir ein Junge mit einem Schulranzen. Er wisse auch nichts Genaues, sagt er, aber bei der sei wohl irgendwas nicht ganz richtig. Als er sein Smartphone zückt, um die Frau zu filmen, fühle ich mich schlecht, hier rumzustehen.
„Hier“, sage ich zu ihm, „wenn du was richtig Beklopptes rumzeigen willst, film doch mich“, und dann schneide ich ein paar der ekligsten Grimassen seit meiner Schulzeit. Der Junge grinst. Kurz darauf gehen wir. Er weiter zur Schule, ich nach Hause. Auch wenn uns die Sache zwischen Ella und ihrem Bruder schon noch interessiert hätte.
JOCHEN WEEBER