■ Die CDU und ihre Schwierigkeiten mit dem offenen Diskurs: Die Mentalität des Schweigens
Jahrelang hat sich die CDU selbst diszipliniert. Wer nicht mitsang im Chor der Kohl-Jünger, mußte damit rechnen, ins Abseits gedrängt zu werden. Die Opfer waren bekannt und standen den Jüngeren als Warnung vor Augen – Rita Süssmuth, Heiner Geißler, Kurt Biedenkopf. Sie wurden abserviert, mit Duldung und Unterstützung der Partei, als Kohl seine Macht in Gefahr sah. Mit den Jahren der Dauerherrschaft des Kanzlers und Parteichefs bildete sich bei vielen in der CDU eine Mentalität des Schweigens heraus, der taktischen Rücksichtnahme zugunsten der eigenen politischen Karriere. Man fuhr ja auch gut mit solch einer Einstellung, solange die Macht in Bonn alle vier Jahre vom Wähler bestätigt wurde.
Manche in der CDU scheinen sich nichts anderes als das Verharren im Gewohnten mehr vorstellen zu können. Kaum anders sind die bisweilen schrillen Reaktionen zu verstehen, die auf die Kritik des sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf am Führungsstil und die Überlegungen des Ex-CDU-Generalsekretärs Geißler zu einem neuen Umgang mit der PDS folgten. Sie, die Ergrauten in der CDU, sind es, die den Muff der Vergangenheit schonungslos kritisieren. Von jenen aber, von denen man den Aufbruch der CDU aus ihrer 16jährigen Selbstbeschränkung erwarten würde, ist kaum etwas zu vernehmen. Das überrascht kaum. Auf ihre Art sind sie Kinder der Ära Kohl, gewöhnt an die Kunst der Rücksichtnahme, die im Zweifelsfall dem Urheber der gedämpften Kritik nicht schaden soll. Stumm blicken sie auf den neuen Mächtigen Wolfgang Schäuble, selbst ein Mann, der sich unter Kohl zur Selbstbeherrschung erzog. Nebulös und in der üblichen unverbindlichen Rhetorik der alten Zeit begrüßte der neue Parteichef das interne Verlangen nach offeneren Tönen.
Die CDU ist in Gefahr, im gewohnten Trott weiterzuwurschteln. Schon auf dem ersten Parteitag nach dem Wahldesaster verpaßte die Partei – und nicht zuletzt Schäuble – die Chance, mit den Strukturen des Kanzlerwahlvereins zu brechen. Statt den Blick auf die innere Erstarrung zu richten, griff man die neue Regierung an, als sei man 16 Jahre in der Opposition gewesen, und wärmte sich am Erfolg des bayerischen Sonderwegs à la CSU. Es wird wohl noch einige Zeit – und Niederlagen – brauchen, bis sich in der CDU die Erkenntnis durchsetzt, daß man am 27. September nicht nur eine Wahl verloren, sondern auch etwas hinzugewonnen hat: nämlich die Freiheit, sich im offenen Diskurs zu streiten. Das aber werden einige wieder lernen müssen. Severin Weiland
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