■ Die Börse entpuppt sich als Börse, Kurse können auch fallen: Nur die Lernkurve steigt beständig
Es sage niemand, Deutschland sei im Börsenfieber. Auch nach den jüngsten Nachrichten von der Wall Street und der Frankfurter Börse sind die Aktienmärkte etwas, das den gemeinen Deutschen wenig interessiert. Hierzulande sind weit mehr Menschen arbeitslos als Aktien besitzen. Und Universitätsseminare, in denen wie in den USA von morgens bis abends der Fernseher mit den aktuellen Börsenkursen läuft, sie gehören hierzulande zur Ausnahme. Nach dem Rückgang der Aktienkurse in den vergangenen zehn Tagen haben Anleger in Frankfurt und New York in den letzten zwei Wochen natürlich einiges Buchgeld verloren. Dies alles ist noch kein Grund zur Beunruhigung.
So wie sich der Börsenkurs seit Jahresbeginn entwickelte, konnte es nicht weitergehen. Warum eine Firma wie VW heute zweieinhalbmal soviel wert sein soll wie noch vor einigen Monaten, ist nicht nachzuvollziehen. Ebensowenig warum die 30 wichtigsten deutschen Firmen, deren Kursentwicklung im Dax festgehalten wird, auch nach den Einbrüchen der vergangenen Tage immer noch 40 Prozent mehr wert sein sollen als zu Jahresbeginn. Das Börsengeschehen hat vor allem mit Psychologie zu tun und erst in zweiter Linie mit den realen wirtschaftlichen Verhältnissen. Es wird viel mehr Geld auf den internationalen Finanzmärkten bewegt als an Werten auf den realen Gütermärkten.
Mit der Psychologie der Börsenkurse ist es wie mit der Betrachtung eines Glases Wasser. Ist es nun halbvoll und schauen wir optimistisch in die Zukunft? Oder ist es halbleer und sehen wir ängstlich zu, wie die Aktienkurse in den nächsten Tagen ins Bodenlose fallen? Das alles erinnert an Kaffeesatzleserei.
Eine ganz andere, vielleicht die optimistischste Lesart der derzeitigen Kursentwicklung, ergibt sich beim Blick auf die volkswirtschaftliche Lernkurve. In den vergangenen 12 Monaten haben so viele Deutsche wie nie zuvor Aktien gekauft und hoffen nun auf den schnellen Gewinn. Die fallenden Kurse der vergangenen zehn Tage machen nicht nur den Neuanleger bei Telekom und Pro7 klar, daß es in der Natur von Börsenkursen liegt, daß sie auch fallen können. Eben das unterscheidet sie vom Festgeld auf dem Sparkonto. Ein weiterer Vorteil, den die Lernkurve bietet, sie steigt beständig. Hermann-Josef Tenhagen
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