piwik no script img

Die Ankunft des Rock ‘n‘ Roll steht kurz bevor

„Populärmusik aus Vittula“: Mikael Niemi begibt sich in Schwedens hinterste Provinz

Im äußersten Norden Schwedens liegt die Grenzstadt Pajala. Nur einen Steinwurf entfernt beginnt Finnland, und das russische Murmansk ist auch nicht mehr sehr weit. Wenn mittlerweile die meisten Schweden wissen, das ihr Land tatsächlich bis hinauf in diese gottverlorene Einöde reicht, liegt das vor allem an Mikael Niemis Roman „Populärmusik aus Vittula“. Der überwältigende Erfolg dieses in Schweden bereits zum Kultbuch avancierten Bestsellers enthält aber weitaus mehr als ein Stück skandinavischer Landeskunde. Niemi ist es gelungen, die eigentümlichen, finnisch geprägten Bewohner des Tornedals für immer in das schwedische Nationalbewusstsein einzuschreiben.

Was man dazu wissen sollte: die Grenzbevölkerung in der äußersten Provinz Schwedens spricht nicht nur Finnisch, sie lebt auch à la finlandaise. Was einen typischen hurti, einen rustikalen Hinterwäldler ausmacht, beherrschen die Tornedaler aus dem Effeff: Sie trinken bereits als Aperitif ein paar Flaschen Wodka, finden Bücherlesen unmännlich und führen Familienfehden auch noch nach hundert Jahren weiter.

Der 1959 geborene Niemi erzählt milieugetreu mit biografischem Hintergrund eine Jugend in dieser hinterletzten Provinz. Die Protagonisten Matti und Niila wachsen während der Sechzigerjahre in einem Stadtteil von Pajala auf, den die Einwohner wegen der hohen Geburtenrate Vittulajänkka das „Fotzenmoor“ nennen. Es ist die Zeit des Rock ’n’ Roll, der irgendwann auch in dieser Gegend ankommt. Die erste eigene Single – „Rock ’n’ Roll Music“ von den Beatles – wird zu einem Erweckungserlebnis. Einen ähnlichen Eindruck bietet nur das aufbrechende Eis des Torneälv-Flusses während des Frühjahrs: wenn die dicken Schollen mit riesigem Getöse aufbrechen, versammelt sich die gesamte Stadt am Ufer wie zu einem Rockkonzert.

Matti und Niila beginnen bald, selber Musik zu machen. Zusammen mit dem Drummer Holgeri gründen sie eine Schulband und präsentieren dem heimatlichen Publikum die Taiga-Version des Rock ’n’ Roll: schiefe Musik und dazu Texte in einem abenteuerlichen Gemisch aus Schwedisch, Finnisch und Englisch. Ansonsten gibt es ohnehin nicht viel zu tun in Pajala. Man prügelt sich, nimmt an lebensgefährlichen Wettbesäufnissen teil oder sauniert um die Wette, bis man Brandblasen bekommt. Irgendwann im Verlaufe des Reifungsprozesses kommt dann noch der Sex mit kraftstrotzenden finnischen Landfrauen hinzu.

Der endgültige Initiationsprozess vollzieht sich bei Matti stilecht in der völlig überheizten Familiensauna: sein Vater erklärt ihm nahe am Delirium, was er als erwachsenes Mitglied der Familie so alles wissen muss. Nicht nur die Namen der unehelich gezeugten Cousinen, sondern auch die Namen der Streikbrecher eines Flößerstreiks aus den Dreißigerjahren und weiterer Erzfeinde gilt es zu lernen.

Schließlich gibt der Vater noch den gut gemeinten Rat: nicht zu viel nachdenken, und vor allem: keine Bücher lesen! Ein echter Mann darf im hohen Norden nichts tun, was als knapsu angesehen wird – so bezeichnet man im Tornedal-Finnischen alles Weibische. Holz fällen, Elch jagen und Schneescooter fahren sind okay. Doch darf ein Mann Halbfettmagarine essen? Eine Standheizung im Auto haben? Und was ist am Ende mit Rockmusik!?

Doch am meisten knapsu ist in den Augen der Älteren immer noch das, was nicht wenige Jugendliche tun: Pajala verlassen, um in der „echten Welt“ sein Glück zu versuchen. Das wird auch Matti am Ende tun. Er erzählt seine Geschichte rückblickend als sentimental journey aus der Perspektive des Erwachsenen, der in den dichter besiedelten Süden des Landes ausgewandert ist. Egal, woher man kommt: Die entlegenste und wohl auch absurdeste Provinz ist immer noch die eigene Jugend.

Das Ausmaß des bisherigen Erfolgs von Populärmusik aus Vittula in Schweden kann man nicht nur an den hohen Verkaufszahlen ablesen, sondern auch am ungewöhnlichen Tornedal-Hype: ein Redakteur der Tidningen Ångermanland wünschte sich nach der Lektüre ernsthaft, auch „dort oben“ aufgewachsen zu sein. Hält man sich die traditionell äußerst abschätzige Meinung des zivilisierten Schwedens gegenüber den finnischen Jurten-Prolos jenseits des Polarkreises vor Augen, hätte Mikael Niemi allein schon für diese Integrationsleistung eine Nominierung für den Literaturnobelpreis verdient.

ANSGAR WARNER

Mikael Niemi: „Populärmusik aus Vittula“. Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt. BtB, München 2002. 304 S., 19,90 €

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen