: Die Agrokalypse von Mücheln
Nur eine tote Kuh ist eine gute Kuh, hieß es auf dem Höhepunkt der BSE-Angst, als das Fleisch in den Metzgereien zur Mutprobe wurde
aus Mücheln MANFRED KRIENER
Das Leben beginnt auf staksigen Beinen. Dürr und wackelig turnt ein Dutzend schwarz-weiß gefleckter Kälber durch die Einstreu. Ihr riesiger Laufstall, der so seltsam leer wirkt, gehört zur Landwirtschaftlichen Produktions- und Vertriebsgesellschaft (LPV) Mücheln – einem Großbetrieb mitten im ländlichen Sachsen-Anhalt. Vier Monate lang stand hier kein einziges Tier im Stall. Jetzt gucken wieder große braune Friesenaugen voller Erwartung in die Welt. Das bekannte „Kindchenschema“: gedrungene Köpfe, kleine Körper und die tapsige Unbeholfenheit machen aus jedem Kalb ein Kälbchen und lösen beim Besucher sofort den Streichelreflex aus. „Süss!“, pflegen dann die Frauen zu flöten, und beim Gedanken ans nächste Kalbssteak stellt sich leichtes Gruseln ein.
Die moderne Landwirtschaft hat für solche Sperenzchen wenig Zeit. In vielen Betrieben wird das Kalb unmittelbar nach der Geburt von der Kuh getrennt. Keine Minute dürfen Muttertier und Junges zusammenbleiben, lecken, trinken, sich berühren, sich gemeinsam von der Strapaze erholen. Die Intimität der Geburt ist schnöder Betriebswirtschaft gewichen, der Beginn des Lebens ist der Beginn ökonomischen Kalküls. Das Kalb kommt in den Kälberstall, basta. Tränkeautomat statt Euter, Milchaustauscher statt Muttermilch.
Bei Fritz Arlet in Mücheln dürfen die Kühe ihr Junges immerhin einen halben Tag lang lecken, es trocknen und ihm ein oder zwei Runden an der hauseigenen Milchbar spendieren. Arlet macht das so, weil er auch nach 30 Jahren als „Großbauer“ Respekt hat vor dem Tier. „Bauer wird man nicht zum Geldverdienen“, sagt Arlet und meint damit, dass so etwas wie Naturverbundenheit dazu gehört. Arlet ist ein stiller Mann, Ende 50, weißes Haar, wache Augen, eine doppelte Portion Ruhe und Gelassenheit.
Vergiften im Akkord
Selbst wenn er auf den 20. Januar zu sprechen kommt, einen der schlimmsten Tage seines Lebens, wirkt er unaufgeregt. Es war der Tag, als das Telefon bimmelte und ihm mitgeteilt wurde, dass eine seiner Kühe im Prionentest auffällig war: Löcher im Rinderhirn! Damit wurde Mücheln zum bis heute spektakulärsten aller knapp 100 BSE-Fälle in Deutschland. Mit der umstrittenen Herdenkeulung starben hier alle 955 Rinder. Nirgends waren es mehr. Die Massentötung wurde zum Politikum mit Demonstranten, Blockaden, massivem Polizeieinsatz und großer Emotion.
Beamtete Tierärzte wurden zwangsverpflichtet, um zwei Wochenenden lang im Schichtbetrieb die tausend Kühe per Giftinjektion zu töten. Draußen schrien die Demonstranten: „Mörder! Mörder!“ Drinnen stand den Tierärzten der Schweiß auf der Stirn. Man hatte ihnen mit Kündigung gedroht, wenn sie den Job nicht machen. Veterinäre, die sonst Stempel aufs Papier drucken, mussten im Akkord und unter Polizeischutz Kälber, Jungrinder, tragende Kühe vergiften. Tagelang. Wortlos. 40 Lastwagen voll. Das ging nicht ohne seelsorgerischen Beistand. Noch Wochen später riefen die Tierärzte bei der Pfarrerin an, wenn nachts die toten Kühe brüllend durch ihre Träume trampelten. Die „Agrokalypse“ von Mücheln.
Arlet hatte sich den „Worst Case“ schon Wochen zuvor ausgemalt. „Was wäre eigentlich, wenn die bei uns was finden, dann müssten die tausend Rinder auf'n Kopp hauen?“ Der LPV-Geschäftsführer konnte sich das nicht vorstellen. Er wollte es auch nicht. Aber genauso ist es gekommen. Plötzlich war der größte landwirtschaftliche Betrieb im Kreis Merseburg-Querfurt wie ausgestorben. Stille im Stall. „Ein seelisches Erdbeben für alle“ sei das Gemetzel von Mücheln gewesen, sagt Pfarrerin Annette-Christine Lenk. Arlet formuliert es weniger drastisch: Die Herdenkeulung sei „wissenschaftlich umstritten, einfach Quatsch, aber uns Bauern hat keiner gefragt!“ Inzwischen hat Ministerin Künast die Herdenkeulung abgeschafft, doch damals im Januar, auf dem Höhepunkt der BSE-Angst, als das Rind zum Entsorgungsproblem wurde und das Fleisch in den Metzgereien zur Mutprobe – damals war nur eine tote Kuh eine gute Kuh.
Statt wildem Aktionismus hätte es eine ruhige Hand gebraucht, sagt Arlet. Jetzt steht der LPV-Geschäftsführer im halb leeren Kälberstall, reißt einen bunt bedruckten Sack auf und bittet zur Geruchsprobe. Wunderbar süßlich-vanillig duftet das feine, gelbe Pulver. „Millibeef Sprint 2000“, steht auf dem Sack, „40 Grad Anrührtemperatur“. In ihm steckt jener Milchaustauscher, der die Ursache für den BSE-Fall von Mücheln gewesen sein könnte. „Da hat man doch Vertrauen!“, sagt Arlet. Und tatsächlich erinnert das schick aufgemotzte Pulver eher an Babynahrung als an BSE-Horror.
Milch ist im europäischen Agrarbestiarium zu wertvoll, um sie an Kälber zu verfüttern. Die bekommen einen aus Molke- und Magermilchpulver gemixten Billigkunstbrei serviert. Bis zum Ausbruch der deutschen BSE-Stampede war dieser Milchaustauscher mit Fetten aus Tierkadavern angereichert. Man hat der modernen Landwirtschaft vieles zugetraut, aber dass sie Fette aus Tierleichen herauspresst, um damit neugeborene Kälber zu füttern, überstieg selbst kühnste Phantasien. Arlets Mitarbeiter haben, wie alle anderen Bauern auch, den Milchaustauscher arglos verfüttert.
Und sie tun es heute wieder. Das Pulver wird jetzt allerdings ohne Kadaverfett hergestellt. Nur beim Futter für die ausgewachsenen Kühe hat Arlet umgestellt. Außer Sojaschrot, Rapskuchen und Mineralstoffen werden nur noch eigenes Getreideschrot, Heu, Gras und Rübenschnetzel verfüttert. Industrielles Kraftfutter kommt ihm nicht mehr auf den Hof. Tiermehl-Verunreinigungen im zugekauften Industriefutter könnten nämlich – neben dem Milchaustauscher – ebenfalls die Ursache für den BSE-Fall von Mücheln gewesen sein. Es gibt keine Beweise. Und natürlich hat die LPV ihr Futter nie untersuchen lassen. Klar ist aber, dass Deutschland noch bis tief ins Jahr 2000 hinein Tier- und Knochenmehle produzierte, die nicht über 100 Grad erhitzt und ohne Überdruck erzeugt wurden. Unbestritten ist, dass auch ausländische Tiermehle importiert und dem Kraftfutter zugesetzt wurden, die Risikomaterial enthielten. Ebenso unbestritten ist, dass die Futtermittelindustrie, das staatliche Kontrollsystem und die Politik jämmerlich versagt haben.
„Keen Pfennig“ hat Arlet gesehen
Klar ist aber auch, dass Fritz Arlet für dieses Versagen nun die Zeche bezahlt. Die Konsequenz ist ein Verlust von einer Million Mark. Er spricht diese Zahl leise aus und ein wenig fatalistisch. So als sei dies eine schicksalhafte Fügung, dass ausgerechnet der Bauer das große BSE-Fiasko kompensieren muss. Als sei dies die gerechte Strafe dafür, dass er kein Chemielabor neben den Kuhstall hingestellt hat, das sein Futter täglich analysiert hätte. Alle waren sie auf seinem Hof: Staatsekretäre, Ministerialbeamte, Bauernfunktionäre, der Landrat, die Parteien, alle haben ihm nach der BSE-Katastrophe Hilfe versprochen. „Keen Pfennig“, hat Arlet gesehen, „keen eenzigen Pfennig“. Allein die Tierseuchenkasse hat gezahlt. Aber nur 1.700 Mark für jede getötete Kuh. Heute zahlt der Betrieb für Zukäufe 2.000 Mark und mehr.
Weil einige Tiere im Stall ihre Ohrmarke verloren hatten, gab es von der Seuchenkasse einen kräftigen Abschlag. Am Ende erhielt die LPV 1,25 Millionen Mark für ihre 955 Stück Vieh. Doch der Aufbau der neuen Herde wird wohl über zwei Millionen Mark kosten. Monatelang konnte Arlet zudem keinen einzigen Liter Milch verkaufen. Erst im April kam das Geld von der Seuchenkasse, erst dann war wieder an den Aufbau einer neuen Herde zu denken. 13 von 21 Mitarbeitern wurden „auf Kurzarbeit null gesetzt“, doch die Sozialabgaben musste die LPV weiter bezahlen. Und in den Ställen vergammelte teures Futter. BSE macht arm. BSE macht arbeitslos und mutlos.
Arlets Angst, am Rinderwahnsinn Pleite zu gehen, war heftig. Ebenso die Versuchung, alles hinzuwerfen. Doch dann setzte eine überraschend große Unterstützungswelle von den kleinen Leuten und von den bäuerlichen Kollegen ein. Hier wurde ein Kalb geschenkt, dort ein Jungrind oder eine ausgewachsene Kuh. Hundertmarkscheine kamen mit der Post und aufmunternde Worte von Menschen, die Arlet noch nie im Leben gesehen hatte. Auf insgesamt 100.000 Mark schätzt er die Kuh- und Geldspenden. Also hat er weitergemacht. In der kuhlosen Zeit bekam der Stall einen lindgrünen Anstrich, die Gummimatten, auf denen die Kühe liegen, wurden neu bepolstert. Das Melkhaus hat man neu gefliest, die Dachspitze im Kuhstall verglast. Es wurde desinfiziert und geputzt.
Und Arlet hat sich einige Biobetriebe angesehen. Die Umstellung auf ökologische Wirtschaftsweise erschien mit der von Künast postulierten Agrarwende attraktiv. Doch am Ende war ihm das Risiko zu groß. „Es ist schwierig, so einen großen Betrieb umzustellen, es wäre Leichtsinn gewesen“, sagt Arlet. Er sei auch nicht wirklich überzeugt, ob die Biolandwirtschaft wirklich das bessere Produkt abliefert. Inzwischen hat er wieder 120 Milchkühe und 400 Jungrinder und Kälber eingestallt, täglich gehen 2.600 Liter Milch an die Frischli-Molkerei. Die Vermarktung läuft problemlos, eine Stigmatisierung als „BSE-Hof“ hat es nie gegeben. Ende 2002 sollen dann alle Boxen besetzt, soll die alte Belegschaft wieder hergestellt sein. Was wird dann noch an die BSE-Zeit erinnern? Das tuberkulöse Bankkonto sicherlich. Die reduzierte Belegschaft, die auch künftig kleiner gehalten werden soll. Und der Schauder beim Gedanken an den 20. Januar 2001.
Arlet zeigt auf eine in die Wand montierte Riesenbürste, an der sich die im Laufstall vagabundierenden Kühe reiben und reinigen können. „Happy cow“ steht auf der Bürste, glückliche Kuh.
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