Die Abenteuer eines Tierfilmers: Die Kammer, aus der Filme kommen

Oliver Goetzl ist ein bekannter Tierfilmer. Dennoch schneidet er seine Filme in einer kleinen Kammer auf dem Dachboden seines Geburtshauses – wenn er nicht gerade durch die Weltgeschichte reist.

Inspiration für den Firmennamen: Der Vielfraß (lateinisch "gulo gulo"). Bild: dpa

Ob wohl viele Naturfilmregisseure, die für Disney, den Discovery Channel und National Geographic arbeiten, ihre Filme auf dem Dachboden ihres Geburtshauses schneiden? Oliver Goetzl hat jedenfalls ungewöhnliche Arbeitsbedingungen. Sechs Quadratmeter groß ist der Raum in dem Haus in Iserbrook, in dem er seit 46 Jahren lebt. Goetzl ist hier gerade dabei, „Yosemite“ zu schneiden, einen Film über den gleichnamigen kalifornischen Nationalpark, der im Rahmen einer neunteilige Reihe 2015 beim TV-Sender Arte läuft.

Neben einem Schreibtisch mit drei Monitoren sind in dem Raum, der eher ein Räumchen ist, ein DVD-Archiv und eine Sammlung von Trophäen untergebracht, die Goetzl mit seinem Kompagnon Ivo Nörenberg auf den großen Naturfilmfestivals gewonnen hat.

Verlässt man den höhlenartigen Kleinraum, stößt man nach wenigen Schritten unter einer Dachabseite auf einen 24-Terrabyte-Server – und auf eine Stiege, die in ein anderes Leben Goetzls führt. Hier lagern Exemplare der 75 Platten, die das von ihm gegründete Gitarrenpop-Label Marsh Marigold seit 1988 herausgebracht hat. Bei der Kleinstfirma veröffentlicht auch seine eigene Band Knabenkraut, deren zweites Album „Someone still loves you, Knabenkraut“ kürzlich erschienen ist.

Eigentlich sei das ja „supernervig“ zu Hause zu schneiden, aber ein „Chaot“ wie er, der „viel aus dem Bauch heraus entscheidet“, könne nicht im Studio drei Wochen lang neben einem Cutter sitzen. Daher sei die Arbeit auf dem Dachboden eindeutig die angenehmere Variante, sagt Goetzl. Gulo Film, die Produktionsfirma, die Goetzl mit Nörenberg betreibt, hat sich international ein beachtliches Renommee erarbeitet – unter anderem, weil die beiden Hamburger Dokumentarfilme über Tiere drehen, über die es vorher keine gegeben hatte.

Balus Vorbild

Über Vielfraße etwa, deren lateinischer Name (Gulo gulo) den Dokumentaristen als Inspiration für ihren Firmennamen diente. Oder über die indischen Lippenbären, die als Vorbild für den berühmten Balu aus dem „Dschungelbuch“ dienten.

2014 war das Duo für zwei Drehreisen wieder in Indien. Sechs Monate im Jahr sei er mindestens unterwegs, sagt Goetzl. Daran wird sich auch 2015 nichts ändern. Zwei Großprojekte starten: In Kenia will er mit Nörenberg einen Film über den Vulkan Suswa drehen, in dessen Innenkrater sich nachts Paviane niederlassen, um sich vor Leoparden zu schützen. Das zweite große Projekt dreht sich um weiße Wölfe, die in der kanadischen Arktis leben.

In dieser Woche geht es nach Kenia auf Recherche, im Februar folgt die erste Drehreise. „Das Problem ist, dass wir keine Managementtypen sind“, sagt Goetzl. „Wir sind zu lange im Feld.“ Sie absolvierten stets mindestens doppelt so viele Drehtage, wie sie laut Vertrag bezahlt bekommen. Auch als sie die Chance hatten, als Sprecher für die englische Fassung von „Held aus dem Dschungelbuch: Der Lippenbär“ die britische Naturfilmlegende David Attenborough zu gewinnen, guckten sie nicht auf den Cent.

Der Mann, inzwischen 88 Jahre alt, aber noch auf Reisen durch die Tierweltgeschichte, verlangte als Honorar ein Vielfaches dessen, was der bekannteste deutsche Sprecher kostet. Doch was zählt das, wenn man sich einen „Kindheitstraum“ erfüllen beziehungsweise mit jemandem arbeiten kann, den man in jungen Jahren bewunderte? Der Lohn für die teure Zusammenarbeit: ein Animal Behaviour Award beim Wildscreen-Festival in Bristol 2012.

Die Natur spielt nicht mit

„Gute Filme kann man nur in Selbstausbeutung drehen“, sagt Goetzl. „Ich bin sowieso viel weg, und in jedem Film stecken quasi drei Jahre Familienleben.“ Bevor er „schlechte Filme“ mache, arbeite er „lieber im Hafen“. Die langen Drehzeiten rühren auch daher, dass die Natur sich in der Regel nicht so verhält, wie man das vorher kalkuliert hat – das Problem kennt jeder, der in dem Genre arbeitet.

Für Goetzl und Nörenberg enden Filmprojekte nach klassisch kaufmännischen Maßstäben auch deshalb nicht optimal, weil sie einen Großteil des Budgets stets in neue Geräte investieren. „Wir waren das zweite Team im Tierfilmbereich in Deutschland, das eine HD-Kamera hatte“, sagt Goetzl. Die schafften sich Nörenberg und er für ihren ersten Film an. 120.000 Euro hat das Gerät damals gekostet.

Auch für die neuen Projekte in Kenia und Kanada muss Spitzen-Hardware her, etwa ein Oktokopter – ein ferngesteuertes Flugobjekt, in dem sich eine Kamera unterbringen lässt. Für die finanzielle Balance sorgen Projekte, die Goetzl/Nörenberg nicht hauptverantwortlich als Produktionsfirma umsetzen, sondern für die sie als Dienstleister zu ordentlichen Tagessätzen gebucht werden. In diesem Modus arbeiten sie an Reihen für den Discovery Channel oder an dem Disney-Kinofilm „Monkey Kingdom“ mit, der im April 2015 startet.

Nicht nur finanziell gehen die Tierfilmer manchmal an ihre Grenzen, auch körperlich: Bei den Dreharbeiten für einen Film der Reihe „Wildes Russland“ stürzten sie im Ural mit einem Ballon ab, Nörenberg verletzte sich schwer. Sieben Tage vor der ersten Indien-Reise für „Der Lippenbär“ wurde Goetzl seine Vorliebe fürs Kunstturnen zum Verhängnis. Dem Sportkameraden der Turnerschaft Osdorf misslang ein Salto vom Trampolin. Resultat: Kreuz-und Innenband gerissen, Meniskus kaputt.

Der Arzt sagte ihm damals: „Am Montag werden Sie operiert und dann bleiben Sie drei Monate zu Hause.“ Goetzl entgegnete, das mit der Operation sei schon okay, aber danach werde er nach Indien fliegen. Harte Arbeit in der Wildnis statt beziehungsweise als Reha – so lautete seine Idee. „Die erste Drehreise ist immer besonders wichtig, weil letzte Vorbereitungen zu treffen sind“, sagt Goetzl. Den Salto macht er im Übrigen jetzt „nur noch im Schwimmbad“.

Auf den Hintern gefallen

Die letzte Drehreise in Sachen Lippenbären erwies sich ebenfalls als körperliche Herausforderung. Als Goetzl eines Tages versuchte, einen Affen von der Kamera wegzuscheuchen, rutschte er aus und stürzte nach einer „Schussfahrt über eine Felsenklippe“ drei Meter tief. „Mein Hintern war großflächig blau, der NDR wollte mich ausfliegen.“ Goetzl blieb, kroch trotz Schmerzen in Bärenhöhlen, um dort Kameras anzubringen.

Vier Wochen später das nächste Unglück: Mit dem Ballon stießen die abenteuerlustigen Hamburger gegen einen Felsen, es folgte „ein gefühlt freier Fall aus 30 Metern“, sagt Goetzl. Mittlerweile hat sich eine Spätfolge des Klippensturzes herauskristallisiert: ein Bandscheibenvorfall.

Der langwierige Produktionsprozess von Goetzls Filmen hat auch Auswirkungen auf seine Musik: Die Produktion des aktuellen Knabenkraut-Albums etwa dauerte mehr als doppelt so lang wie jeder seiner Filme. Die Musik haben seine Kollegen bereits 2006 aufgenommen, da war Goetzl, der Sänger, in Russland. 2008 hat er dann seinen Teil beigesteuert und 2009 die Platte abgemischt. Bis zum Mastering vergingen weitere vier Jahre. Da die Musik, die an Felt und Belle & Sebastian erinnert, an keinen der derzeit herrschenden Indie-Trends anschlussfähig ist, spielt das aber keine Rolle.

Das Label Marsh-Marigold sei „letztlich eine Hobbygeschichte“, es gebe dafür einen „Hörerkreis von 4.000 bis 5.000 Menschen weltweit“, schätzt Goetzl. Aus dem operativen Geschäft hat er sich weitgehend zurückgezogen, sein Knabenkraut-Mitmusiker Björn Steffens ist hier mittlerweile der wichtigste Macher. Immer mal wieder entstehen kuriose Verbindungen zwischen Tierfilm und Gitarrenpop. Der neueste Marsh-Marigold-Zugang etwa kommt aus Schweden und hat denselben Namen wie Goetzls und Nörenbergs Produktionsfirma: „Gulo“.

Über Wasser gehalten hat sich das Label vor allem dank Fans in Japan. Als Knabenkraut dort in den 1990er Jahren auf Tour waren, organisierten Anhänger des Labels zum Abschied einen Abend, an dem fünf örtliche Bands Stücke von Marsh-Marigold-Bands coverten. „400 Leute waren da und wir mussten Platten des Labels signieren. Musikalisch gesehen war das das Erlebnis meines Lebens“, sagt Goetzl.

Sieben Katzen der Goetzls

1999, als auf einem japanischen Label eine Single mit vier Stücken von Marsh-Marigold-Gruppen erschien, ging die Wertschätzung für das Wirken Goetzls so weit, dass die Japaner die kleine Compilation „Seven Fantastic Cats“ nannten – eine Anspielung darauf, dass die Familie Goetzl seinerzeit sieben Katzen hatte. Eine davon, Makkaroni, 19 Jahre alt, lebt noch in dem Haus in Iserbrook.

Mit dem Arbeiten auf dem Dachboden ist es dort wohl bald vorbei. Ein Umzug ins Souterrain eines Anbaus ist geplant. Im Sommer ist es ganz oben so heiß, dass der Server mit einem Ventilator gekühlt werden muss. Arbeiten kann man bei der Hitze unterm Dach sowieso nicht. Immerhin: Im Sommer 2015 stellt sich das Problem für Goetzl nicht. Den verbringen Nörenberg und er in der kanadischen Arktis.

Arte wiederholt „Held aus dem Dschungelbuch: Der Lippenbär“ am 30. 12. um 10. 20 Uhr
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