Diary Slam: Erste Pickel, jugendliche Pein
Wenn schmerzfreie Menschen Wildfremden aus alten Tagebüchern vorlesen – und am Ende dafür belohnt werden: ein Abend in Hamburg-Altona.
HAMBURG taz |Das Licht ist gedämpft, nur der Schimmer einer Kerze erhellt den mit dunklem Holz verkleideten Raum. In der Luft liegt der Duft von frisch gezapften Bier. Das „Aalhaus“, eine Eckkneipe in Hamburg-Altona, ist voll bis auf den letzten Platz. In der ersten Reihe, direkt vor der kleinen Bühne, dort wo das Pult steht, von dem sie gleich lesen wird, sitzt Antje, eigentlich PR-Referentin. „Scheiße, was mache ich hier eigentlich“, murmelt die 36-Jährige und lässt ihren Blick über die neugierig dreinblickenden Gesichter um sie herum schweifen. Gibt man ihr zu Begrüßung die Hand, fühlen sich ihre Finger kalt an.
„Willkommen beim Diary Slaaaaam!“ Ein junger Mann mit Dreitagebart betritt die Bühne und begrüßt die Zuschauer. Er spricht gekünstelt tief, wie ein Ringsprecher, der seine Zuschauer für einen anstehenden Boxkampf aufpeitschen will. „Wer möchte uns denn heute ein paar Schätze aus seiner Jugend anvertrauen?“, fragt er und blickt suchend ins Publikum. Antje zögert. „Mein Gott, mein Herz schlägt so laut, kann man das hören?“, fragt sie flüsternd. Dann blickt sie auf das schwarze Tagebuch, das sie in ihren Händen hält. Soll sie wirklich all diesen Fremden von ihrer verbotenen Jugendliebe erzählen?
Mit ihren kalten Fingern umfasst sie die Flasche Astra, die vor ihr steht, trinkt einen großen Schluck. Astrid und Siegrid sind schneller, die zwei Frauen melden sich als Freiwillige. Dann hebt auch Antje ihren Arm, erst zaghaft, dann mit Bestimmtheit. „Ach, da haben wir ja noch jemanden“, sagt der Moderator und zwinkert Antje zu. „Keine Angst, wir beißen nicht!“
Beim „Diary Slam“ lesen Mutige vor einem fremden Publikum aus ihrem Tagebuch vor und erzählen von bedauernswerten Belanglosigkeiten, viel Herzschmerz und den Irrungen und Wirrungen der ersten großen Liebe. Vorbild für die Veranstaltung in Hamburg waren die Londoner „Cringe Nights“, bei denen Menschen in stickigen Pubs peinliche Erlebnisse preisgeben. Seit Sommer 2011 gibt es das Event nun auch in Hamburg, einmal im Monat, jeden letzten Donnerstag im „Aalhaus“. Für diese deutsche Variante kam der Slam-Charakter hinzu: Am Ende des Abends entscheidet eine Jury aus zwei Zuschauern über die beste Performance, der Gewinner erhält ein Vintage-Tagebuch.
Als Antje die Bühne betritt, hält sie ihr authentisches Tagebuch fest an den Körper gedrückt. „Ich will LEBEN, jeden Tag aufs Neue“, steht auf dem Buchrücken. Neongelben Post-it-Zettel markieren die Passagen, aus denen sie vorlesen will. Kurze Mikrofonprobe, dann geht es los: „25. 9. 1994. War ich jemals so verwirrt? Ich weiß es nicht. Marco war heute noch nach der Arbeit bei mir. Für mich war klar, nur labern, er ist ja mit Lisa zusammen.“ Nach ein paar Sätzen ergänzt sie mit stockender Stimme: „Kurz und gut, wir haben miteinander geschlafen.“
Antje blickt beschämt in die Menge. Dann erzählt sie, wie ihre sizilianische Affäre mit Lisa Schluss machte, um mit ihr zusammenzukommen; davon, dass sie Angst hatte, dass ihre Eltern sie und ihren Freund hören, weil er beim Sex so laut gewesen sei.
Die Tagebucheinträge der damals 17-Jährigen spiegeln die typischen Gefühlszustände eines pubertierenden Jugendlichen wider: An einem Tag will sie „zerspringen vor Glück“, zwei Tage später hasst sie ihren Freund plötzlich und „will am liebsten nicht mehr leben“.
Nach ihrem Auftritt lässt sich Antje in den samtgrünen Sessel fallen. „So schlimm war es gar nicht“, sagt sie hörbar erleichtert und atmet aus. „Man ist so auf das Lesen fixiert, dass man das Publikum gar nicht sieht.“ Gewonnen haben wird die 36-Jährige am Ende des Abends zwar nicht – aber auftreten wolle sie bald wieder auf der Bühne des Diary Slam. „Was dort drin steht, ist ja schon ewig her und ich habe damit abgeschlossen“, sagt sie und streicht mit der Hand liebevoll über die eng beschriebenen Seiten ihres Tagebuchs. „Nur deswegen kann ich auch anderen davon vorlesen, weil es mich eben nicht mehr so berührt.“
Zum Schluss – mittlerweile duzt die 17-jährige Antje ihr Tagebuch, weil sie weiß, dass jener Marco heimlich darin liest – hat sie für ihr Publikum noch einen echten Knaller parat: Eines Tages, nach zahlreichen Auf und Abs, sei Marco zu ihr nach Hause gekommen, das Tagebuch habe aufgeschlagen auf dem Tisch gelegen. „Das erste, was er sagte, war: ’Wer ist Horst?‘ Der einzige Horst, den ich zu diesem Zeitpunkt kannte, war mein Volleyballlehrer und der war über 30, hatte Kinder und war glücklich verheiratet“, erzählt sie glucksend.
„Dann habe ich gefragt: ,Wieso Horst?‘ Und er dann: ’Na, love Horst. Du liebst Horst. Da steht es doch!“ Die 36-Jährige richtet ihren Blick zum Publikum und dreht die aufgeschlagene Seite um: „Love Hurts“ steht da, in Großbuchstaben: „LOVE HURTS“.
Anfang März haben die Hamburger Slam-Erfinderinnen Nadine Wedel und Ella Carina Werner das Pubertäts-Geplänkel als Buch vorgelegt: „Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen“, Fischer Scherz Verlag, 288 Seiten, 14,99 Euro. Buch-Release-Lesung: 4. April, Hamburg, Uebel & Gefährlich.
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