Deutscher Filmpreis für Alexander Kluge: Der Großintellektuelle
Seit Jahrzehnten werkelt er erfolgreich an der Schnittstelle zwischen Anspruch und Massenpublikum - jetzt bekommt Alexander Kluge den Ehrenpreis der Filmakademie.
Ohne Stocken kommt ihm der Satz von Marx über die Lippen. "Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift." Das stimmt heute nicht mehr, sagt Alexander Kluge, wenn überhaupt irgendetwas die Massen ergreift, dann ist es das Vergnügen.
Kluge sitzt an einem Tisch im Restaurant der Deutschen Oper in Berlin. Es ist Mittwoch, acht Uhr abends, auf dem Teller Gnocchi mit Ricotta, Spinat und Olivensugo, dazu ein Bier. Auf der Bühne geht eine Generalprobe vonstatten, "Jeanne d'Arc. Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna". Christoph Schlingensief wollte die Inszenierung besorgen. Weil er ernstlich erkrankt ist, übernehmen Mitstreiter die Regie. Kluges Team sammelt drinnen im Saal Material für eine der Kultursendungen, die seine TV-Produktionsfirma dctp herstellt, während er von seinem jüngsten Vorhaben erzählt: "Das Kapital" von Karl Marx verfilmen. Sergej Eisenstein, der sowjetische Filmpionier, hatte vor 80 Jahren dieselbe Idee. Wo er scheiterte, wollen sich nun Tom Tykwer, Durs Grünbein, Peter Sloterdijk, Alexander Kluge und andere zusammentun, um eine 420-Minuten-Film-Fassung des dreibändigen Werks zu erstellen. Arbeitstitel: "Nachrichten aus der ideologischen Antike." Antike deshalb, weil Marx, sagt Kluge, "einer fernen Zeit" angehöre. Gleichwohl sei er unverrückbar wie ein Gestirn und deshalb Orientierungspunkt für die Navigation in der modernen Welt.
Erstaunlich wendig navigiert Alexander Kluge durch die moderne Welt. Am Freitag Abend wird ihm die Filmakademie den Ehrenpreis "für besondere Verdienste um den deutschen Film" verleihen. Es ist eine gerechte Auszeichnung für einen Mann, der 1932 in Halberstadt zur Welt kam, der Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik studiert hat und sich seither als Jurist, Soziologe, Schriftsteller, Medienmanager, Filmemacher und Opernkenner bewährt. 1962 regte er das Oberhausener Manifest an; ein Schlüsselmoment für den deutschen Film, dem Unterhaltungskino der 50er Jahre wurde eine radikale Absage erteilt. An der Ulmer Hochschule für Gestaltung gründete er mit Edgar Reitz die Abteilung für Film; zudem versuchte er, die gesetzlichen Richtlinien zur Filmförderung im Sinne des Autorenfilms zu gestalten. Vergeblich, wie er heute findet.
Ende der 80er Jahre zog er sich vom Kino zurück. Unterstützt durch das, was er "die moderne Bewaffnungsform Jura" nennt, sorgte er dafür, dass feste Sendeplätze für Kulturprogramme im Privatfernsehen zur Verfügung stehen mussten. Kaum war das erledigt, gründete er die dctp, die seither die Sendeplätze bestückt. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Helmut Thoma, in den 90er Jahren Programmchef bei RTL, beschimpfte ihn als Parasiten und Quotenkiller.
Andere, etwa der Filmemacher Edgar Reitz, finden nur die besten Worte für Kluge. "Ich habe", schreibt Reitz der taz, "keinen so wachen und vor Phantasie übersprudelnden Geist kennen gelernt, wie den von Alexander Kluge. Er hat das kulturelle, wirtschaftliche und politische Geschehen unseres Landes immer von außen, aus einer künstlerisch ungemein inspirierenden Distanz gesehen, ohne dabei selbst ein Outsider zu werden. Alexander Kluge agiert am Rande und gehört doch ganz zum Zentrum des deutschen Films."
Kluges Oeuvre umfasst 57 kurze und lange Kinofilme, unzählige Fernsehsendungen und eine selbst verfasste Bibliothek, in der sich literarische Arbeiten wie "Lebensläufe" (1962) finden, soziologische Werke wie die mit Oskar Negt verfasste Studie "Öffentlichkeit und Erfahrung" (1973) oder die über 2.000 Seiten starke "Chronik der Gefühle" (2000). Auf die Frage, was dieses Wuchern zusammenhält, antwortet Kluge: "Der gemeinsame Nenner ist, dass ich mich für Öffentlichkeit interessiere. Ich bin ein städtischer Mensch. Was ich von meiner Mutter geerbt habe, ist Geselligkeit. Von daher ist Öffentlichkeit etwas, was ich genauso wichtig finde wie Sauerstoff".
Als er hörte, dass ihm die Filmakademie den Ehrenpreis verleihen wird, war er überrascht. Die Akademie berücksichtige "ja stärker den allgemeinen Film", also den, der ein breites Publikum anzieht, mit sauberer Dramaturgie, nachvollziehbaren Figuren und Identifikationsmöglichkeiten. Kluge dagegen arbeitet essayistisch-assoziativ, er erlaubt sich halb kalauernde Einfälle wie den, dass ein einzelnes Knie den Kessel von Stalingrad überlebt und fortan kommentierend den Film durchwirkt ("Die Patriotin", 1979). Oder er bringt Fiktives und Dokumentarisches in einer Einstellung zusammen, wenn er in "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod" (1974) seine Figur - die Beischlafdiebin (Jutta Winkelmann) - mit großem Koffer durch eine echte Frankfurter Straßenschlacht schickt.
Wäre die Auszeichnung "vom Festival in Venedig gekommen", es hätte Kluge weniger gwundert. Am Lido ist er willkommener Gast. Für sein Debüt "Abschied von gestern" erhielt er 1966 einen Silbernen Löwen, drei Jahre später gab es den Goldenen für "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos", ein Essay über die Zirkusdirektorin Leni Peickert (Hannelore Hoger), die ihr Metier reformieren will, dabei an Grenzen stößt und trotzdem den Mut nicht verliert. Es ist ein Film auch darüber, welche Kunst man machen will - und wo: Am Ende geht Leni Peickert zum Fernsehen, wie in einer Vorwegnahme von Alexander Kluges Weg.
Seit 2005 stellt der Kulturstaatsminister der Filmakademie die Preisgelder zur Verfügung; insgesamt sind es knapp 2,9 Millionen Euro. Das war und ist umstritten - immerhin werden hier öffentliche Gelder der Filmbranche überlassen, damit sie sie an sich selbst vergibt. Kritiker fürchten, das Auswahlverfahren führe unweigerlich zu Entscheidungen, die dem Massengschmack geschuldet seien. Andere monieren genau das Gegenteil: Til Schweiger etwa wird nicht müde, öffentlich zu beklagen, dass sein Kassenerfolg "Keinohrhasen" nicht nominiert ist. Kluge, Akademie-Mitglied seit deren Gründung 2003, hält sich aus den Diskussionen heraus. "Ich habe dazu keine Einstellung."
Ein jüngerer Regisseur wie Ulrich Köhler schon: "ich wünsche mir einen neuen kinofilm vom unbezähmbaren alexander kluge", schreibt er, "einen ,angriff der gegenwart auf die übrige zeit'. eine pause bei der suche nach einer praktisch-realistischen haltung. ich muss ihn nicht mit barbara schöneberger auf der bühne sehen." Schöneberger ist die Moderatorin des Abends.
Auch Hannelore Hoger, Hauptdarstellerin in vielen seiner Filme, findet, Kluge solle wieder einen Film fürs Kino machen."Ich bedauere sehr, dass er in seinem Fernsehen eingetaucht ist und dass er keine weiteren Filme mehr gedreht hat." Auf die Frage, ob er dazu Lust hat, schießt das "Ja" sehr schnell aus Kluges Mund. "Ich hänge enorm an Film." Aber Fördergelder beantragen, für einen 90-Minuten-Film? Lieber nicht.
Kluge ist im Februar 76 geworden. Gerade sind dctp die Lizenzen erneuert worden; an Rückzug denkt er also nur in begrenztem Maß. "In mehreren Punkten ziehe ich mich ja notgedrungen oder freiwillig zurück." Er meint damit, dass ihm weniger Sendezeit zur Verfügung steht als früher, und erinnert sich an seine Großmutter mütterlicherseits, die 100 Jahre alt wurde. Und: "Der Papst ist deutlich älter als ich." "Haben Sie manchmal Lust, faul zu sein?" - "Hab' ich", sagt er, ohne zu zögern. "Sind Sie's?" - "Zeitweilig."