Deutscher Buchpreis: Die Liste für Königsmacher
Am Mittwoch wird die Longlist zum Deutschen Buchpreis bekannt gegeben - und bis zur Buchmesse die literarische Aufmerksamkeit bestimmen. Warum eigentlich?
Früher war alles ganz einfach und übersichtlich: Wenn das "Literarische Quartett" einen Roman auf seiner Liste hatte, konnten die entsprechenden Verlage getrost anfangen, nachzudrucken - ganz gleich, ob ein Buch gelobt oder verrissen wurde; am folgenden Tag wurde es gekauft. Das war ein Gesetz, an das man sich halten konnte. Heute gibt es Elke Heidenreich. Da funktioniert der Absatz noch auf ähnliche Weise, zumal man ihr zugute halten muss, dass sie gezielt kleinere Verlage auswählt, deren Bücher sie mit der Aufforderung "Lesen!" in die Kamera hält. Aber sonst? Wer gibt den Käufern Orientierung? Wer hat noch Deutungshoheit und Einfluss? Wer bestimmt, welche belletristischen Titel gekauft werden? Die Feuilletons, das steht fest, sind es jedenfalls kaum.
Der Autor dieses Textes hegte zu Beginn seiner Tätigkeit als Literaturkritiker die Illusion, er könnte mit seiner Arbeit auf den Markt einwirken, wenn auch nur im Kleinen. Der Gedankengang war in etwa folgender: Ein Kritiker empfiehlt in einem überregionalen deutschsprachigen Feuilleton einen Roman, und die zahlreichen Leser gehen daraufhin in die Buchhandlungen, um den Roman zu kaufen. Ein geradezu tragischer Fall von Selbstüberschätzung. Eine hymnische Rezension in einer Tageszeitung freut zwar den Autor, bringt dem Verlag aber wenig. Das Gleiche gilt für zwei hymnische Rezensionen in zwei großen Tageszeitungen am selben Tag. Bei fünf lobpreisenden Rezensionen innerhalb von zwei Tagen könnte sich eventuell ein Effekt einstellen, wenn es gut läuft. Aber nur, wenn der Verlag umgehend flankierende Werbemaßnahmen einleitet.
2007 gab es nach Angaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Deutschland im Bereich der belletristischen Bücher 14.056 Novitäten. Die Klage, dass es sich dabei um eine Überproduktion von Titeln handelt, wird immer wieder geführt, allein ändert sich nichts, weil jeder hofft, dann doch den großen Wurf landen zu können. Vielleicht ist diese Klage aber auch nur ein kulturpessimistischer Reflex. Die Branche im Allgemeinen und der Buchhandel im Besonderen schlitterte in den Jahren 2002 und 2003 in eine tiefe Krise. Also kam man im Börsenverein auf eine Idee: Auch in Deutschland sollte es zukünftig, analog zu England, den USA und Frankreich, einen Preis geben, der nicht weniger als das beste deutschsprachige Buch des Jahres kürt. Man erfand den Deutschen Buchpreis und installierte eine Akademie, die wiederum eine jährlich wechselnde Jury für den Preis zu berufen hat. In der Akademie sitzen beispielsweise der Präsident des Goethe-Instituts, der Vorsteher des Börsenvereins und der Direktor der Frankfurter Buchmesse.
Und nun, im Jahr 2005, im Jahr 1 des Deutschen Buchpreises, geschah etwas, womit niemand in dieser Form gerechnet hatte: Der Deutsche Buchpreis wurde zu einem ungeheuerlichen Erfolg. Es soll an dieser Stelle nicht die Rede sein von der Hybris, die hinter dem Anspruch dieses Preises steckt. Auch nicht davon, dass im Premierenjahr nicht Daniel Kehlmann, sondern Arno Geiger den Preis bekam (Kehlmann wurde ohnehin ein Bestseller). Die Macht, die sich in den drei Jahren rund um den Preis angesammelt hat, ist überraschenderweise so stark geworden, dass selbst nicht wenige seiner Befürworter mittlerweile darüber erschrocken sein dürften. Die Grundidee, Aufmerksamkeit zu schaffen, ist voll und ganz aufgegangen, aber um welchen Preis? Im August benennt die Jury eine so genannte Longlist, bestehend aus etwa 20 Titeln. Einen Monat später erscheint die Shortlist, die sechs Titel umfasst. Wer es nicht mindestens auf die Longlist schafft, kommt nicht mehr vor. Wer es von der Longlist bis zur Verkündung der Shortlist nicht zum Bestseller geschafft hat, kommt auch nicht mehr vor. Bleiben also rund 14.000 Titel, die keine Rolle mehr spielen. Das mag eine Zuspitzung sein, aber kaum eine Übertreibung.
Nicht nur das kann einen Verlag unter Zugzwang bringen: Jeder Verlag kann laut Ausschreibung zwei belletristische Titel einreichen. Was das für einen größeren Verlag bedeutet, lässt sich denken. Wie soll man einem Autor plausibel machen, dass der eigene Roman nicht eingereicht wurde, der eines Kollegen aber wohl? Wem in einem System wie diesem, das auf Etikettierung und käuferfreundliche Präsentierbarkeit ausgerichtet ist, die Rolle des Königsmachers zufällt, liegt auf der Hand - wer in der Jury des Deutschen Buchpreises sitzt, bestimmt über das Buch des Herbstes. Die Macht hat sich verlagert - von der subjektiv gefärbten Fernsehbühne des "Literarischen Quartetts" hin zur nicht minder subjektiv gefärbten Zusammenstellung einer jährlich neu zusammen gewürfelten Kommission von vermeintlichen und tatsächlichen Experten. Und diejenigen, die nicht dazugehören, zerreißen sich das Maul über die Entscheidungen ihrer Kollegen: "Warum steht XY nicht auf der Liste?" Oder: "Was hat YZ dort zu suchen?" Das ist jedes Jahr so und gehört zum Preis dazu. Juryarbeit, wenn sie ernst genommen wird, ist harte Arbeit.
Hauptsächlich Journalisten sitzen in der Jury, außerdem ein Buchhändler, ein Literaturhausleiter. Von der absurden Idee, auch einen Schriftsteller mitreden zu lassen, wurde offenbar wieder Abstand genommen. Die Feuilletons spielen das Spiel um den Buchpreis inzwischen mit. Anstatt in die Lücken zu stoßen, die der Buchpreis reißt, erfüllen sie ihre Rolle als Begleitorchester. Am morgigen Mittwoch wird die Longlist für das Jahr 2008 bekannt gegeben. Die nominierten Titel, dessen darf man sicher sein, werden zu den meistbesprochenen Büchern der Saison gehören. Erst im Oktober, wenn der Preis vergeben und die Buchmesse vorbei ist, wird es wieder ruhiger werden. Und man kann anfangen, jene Titel zu betrauern, die unter der Aufmerksamkeitslawine des Preises verschüttet worden sind. Viel Zeit bleibt allerdings nicht - dann trudeln bald die ersten Frühjahrsvorschauen ein und der Preis der Leipziger Buchmesse steht an. Und wir alle machen wieder mit.