Deutsche Torhüter: Die T-Frage
In Deutschland sind Torwarte keine Menschen, sie sind kämpfende, perfekt ausgebildete Titanen! Ein ganzes Volk scheint besessen vom letzten Mann. Warum?
René Adler kann nicht mit zur WM in Südafrika. Das ist bitter für den Mann - und noch bitterer für die Zuschauer, Leser und Hörer. Denn jetzt wird wieder die T-Frage rausgekramt: "WM-Alarm", "Schock für Jogi" oder - auch gern genommen - "Adler-Schock" prangt auf Zeitungsseiten oder wird durchs Fernsehbild getickert. Und wie der Reflex eines Weltklasse-Schnappers wird die Prä-WM-2006-Diskussion rausgekramt: Wer soll im Tor stehen? Wer nicht? Und - exklusiv der WM 2010 vorbehalten - wer soll als dritter Mann mitfahren und den liebevollen Ersatzersatz spielen?
Die Deutschen und ihre Torhüter. Da spielen die ewigen Nationalstürmer Klose, Podolski und Gomez wie Eimer, im defensiven Mittelfeld muss uns ein holländischer Trainer (van Gaal) zeigen, wer neben dem noch vertragslosen Ballack spielen soll (nämlich Schweinsteiger), und in der Abwehr sind bisher knapp zwei Positionen besetzt: Mertesacker innen, Lahm außen. Der Rest ist vakant. Im Fußballsprech nennt man die noch unbesetzten Positionen "Baustellen". Während der Rest des Teams eine Baustelle Typ "Ground Zero" darstellt, ist die Torwartdebatte eher vom Typ "Gartenlaube ausm Baumarkt muss noch aufgebaut werden". Warum diskutiert der gemeine Laubenkäufer dennoch so hysterisch über Adler, Wiese, Neuer, Butt, Lehmann und Co? Wir sind halt ein Volk von Torhütern, heißt es dann. Da hätten wir Deutsche schon immer Weltklasseleute aufbieten können. Turek, Maier, Schumacher, Kahn. Alle super. Die Varusschlacht hätten wir Germanen auch mit einer Handvoll Torhütern gewinnen können - und das ohne Hinterhalt im Wald.
Medien, ehemalige Sportler und der Fußballverband reden uns gern Folgendes ein: Deutsche Torverhinderer sind so toll, dass die Kinder in den vielen deutschen Vereinen gleich scharenweise im Tor spielen wollen. Ganz anders unsere Sicht auf das Ausland: Der englische Torhüter wird schon mal per se belächelt. Und die starken Fänger aus anderen Staaten sind glückliche Geburten, nicht wie bei uns das Produkt einer von teutonischen Ikonen angetriebenen und geförderten Jugend. Überhaupt stellen die anderen Länder auch gern mal sogenannte Fliegenfänger ins Tor - wir nicht!
Dabei gibt es kaum noch etwas, was diesen Vorsprung bestätigt. So fragwürdig die von einem nicht näher bekannten Kreis von Fußballstatistikern herausgegebene Auszeichnung des "Welttorhüters des Jahres" auch sein mag, ein Deutscher findet sich seit dem Titan Oliver Kahn 2002 nicht mehr unter den Titelträgern. Wir Deutsche glauben wohl einfach gern daran, dass Mercedes und VW seit Jahr und Tag die zuverlässigsten Autos bauen und die deutschen Nationalmannschaften die zuverlässigsten Schlussmänner stellen.
Doch während der Golf in allen Garagen der Welt zu finden ist, hapert der deutsche Torhüterexport - trotz selbst angedichteter Weltmarktführerschaft. Timo Hildebrand, eine ausgewiesene deutsche Fachkraft, flüchtete 2009 von Valencia nach Hoffenheim, nachdem er sich in Spanien auf der Tribüne wiedergefunden hatte. Auch Robert Enke musste nach seiner Zeit bei Benfica Lissabon erfahren, dass beim großen FC Barcelona die große deutsche Torwartschule nicht angemessen wertgeschätzt wurde. Nach neun Einsätzen in der spanischen zweiten Liga durfte er erst in Hannover wieder regelmäßig ran. Und das, obwohl selbst die sicheren deutschen Torwarthäfen in der Bundesliga immer schwieriger anzulaufen sind: Mittlerweile wird jede dritte Torhüterposition in der ersten Liga von einem ausländischen Profi besetzt.
Gern wird auch vergessen, wie Bodo Illgner bei der WM 1994 versuchte, einen von Hristo Stoichkov getretenen Ball mit seinen Blicken um den Pfosten zu lenken, anstatt hinterherzuspringen. Das fehlgeschlagene Experiment bedeutete das Viertelfinalaus gegen Bulgarien.
Und heute? Ob der Schalker Manuel Neuer oder der Bremer Tim Wiese spielen, wird kaum einen Unterschied machen. Wie die meisten anderen favorisierten Länder schickt auch Deutschland gute Torhüter nach Südafrika. Egal, wer die sagenumwobene Nummer eins trägt. Die Gartenlaube ist längst zusammengedübelt, jetzt warten bis zum Juni die Großbaustellen auf Löw und seinen Stab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen