Deutsche Populismusforschung: Die große Feldstudie

Populisten sind eine Gefahr für die Demokratie? Wissen wir noch gar nicht, entgegnen deutsche Populismusforscher.

Eine große Gruppe von ournalisten fotografiert und filmt Frauke Petry, Georg Pazderski und Joerg Meuthen von der AfD bei einer Pressekonferenz

„Die Journalisten müssen noch lernen, die Rechtspopulisten zu dekonstruieren“, sagt die Politologin Paula Diehl von der HU Berlin Foto: ap

Der Mann, der sich selbst für den Retter hält, ist ein rassistischer Wutbürger. Alles, was er von sich gibt, schreibt der Spiegel vergangene Woche, ist ein „populistischer Aufschrei gegen die Macht der verkommenen Institutionen.“ Ein „Populist, der dem Volk aufs Maul schaut“, empört sich die Welt.

Gemeint ist nicht Donald Trump, der seinen Wahlkampf um den Einzug ins Weiße Haus mit einer schmutzigen Anti-Establishment-Rhetorik führte. Auch nicht der völkisch-nationale Norbert Hofer, der gern als Bundespräsident seine Heimat Österreich beschützen will. Und auch nicht Geert Wilders, der in den Niederlanden Stimmung gegen Marokkaner macht und deshalb wegen Beleidigung einer Bevölkerungsgruppe vor Gericht steht. Gemeint ist – Martin Luther, der mit seiner Kritik am Ablasshandel vor 500 Jahren die Kirche spaltete. Der Reformator ein Populist?

Keine Frage, der Begriff hat derzeit Konjunktur. Nicht nur spricht halb Europa über den Aufstieg der Populisten (siehe Kasten). Es ist Mode, seinen Kontrahenten als populistischen Demokratiefeind zu diffamieren. Selbst die EU-Kommission in Brüssel bezeichnet TTIP- und Ceta-Gegner als Populisten. Nur die AfD nimmt die Vorwürfe als Kompliment. Sie will den Begriff wieder positiv besetzen.

Doch was genau zeichnet einen Populisten aus? Diese Frage scheint das Land zu beschäftigen. Als die AfD bei den Landtagswahlen im März in drei Regionalparlamente einzog, zählte Google im deutschen Netz so viele Suchanfragen zu Populismus wie noch nie in den letzten fünf Jahren. Die am häufigsten gestellte Frage: Was bedeutet Populismus?

Der Populismus konstruiert einen Narrativ der Betrogenen

Die Frage beantwortet Paula Diehl am Telefon. Die Politikwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität beschäftigt sich seit Jahren mit Populismuskonzepten. „Populismus“, sagt Diehl, „ist ein komplexer Begriff, weil er verschiedene Ebenen betrifft: den Kommunikationsstil, die Organisation der Partei oder Bewegung, die Ideologie und das politische Programm.“ Wer den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer als Populisten bezeichnet, meint in der Regel seinen Kommunikationsstil. Dem Wahlvolk nach dem Mund zu reden, darauf könne der Begriff nicht reduziert werden.

FPÖ-Wahlkampfplakate

„Sie sind gegen ihn. Weil er für euch ist“

Denn Populisten behaupten nicht nur, den Willen des Volkes zu kennen, sagt Diehl. Populisten konstruierten immer ein Narrativ, in dem das Volk von den Eliten – etablierte Politiker, Presse, wirtschaftliche Elite – betrogen wird. Diehl nennt das „Narrativ des betrogenen Volkes“: „Ein Retter, eine Partei oder eine Führer erweckt das Volk aus dem Schlaf und führt einen Aufstand gegen die Mächtigen an, um das Volk zu befreien.“

Ähnlich formulieren das andere Politikwissenschaftler. Populisten, schreibt Jan-Werner Müller von der Universität Princeton in seinem aktuellen Buch „Was ist Populismus?“, dulden keinen legitimen Mitbewerber um die Macht. Die anderen Parteien bildeten ein legitimes Kartell, das vom Volk beseitigt werden müsse. Die Bürger, die sie nicht unterstützen, gehören automatisch nicht zum wahren Volk.

Deutschland gegen Populisten gefeit? Ein Irrtum

Volk und Antivolk, dieses Gegensatzpaar gehört zum Standardrepertoire von Populisten. Mittlerweile zieht der Appell an das Volk auch in Deutschland wieder. Und das überrascht Parteienforscher. Schließlich haben es in rund 60 Jahren Demokratie nur zwei Protestparteien – die Grünen und die Piraten – je in den Bundestag geschafft. Andere wie die Hamburger Schillpartei oder die in Süddeutschland erfolgreichen „Republikaner“ gingen schnell wieder ein.

„1989 hatte auch niemand den Fall der Mauer vorhergesehen“, sagt Christian Nestler mit Blick auf die AfD-Wahlergebnisse. Der Politikwissenschaftler von der Universität Rostock beschäftigt sich mit Parteien „am rechten Rand“. Nestlers Forschungspartei ist der weitere Ostseeraum. Er beobachtet die rechtsextreme „Schwedenpartei“ oder die unverhohlen ausländerfeindlichen „Wahre Finnen“. Dass er eine erfolgreiche rechtspopulistische Partei im eigenen Land haben würde, hätte er sich vor zehn Jahren nicht träumen lassen. Nun schreibt er über die populistische Strategie der AfD. „Es war ein Irrtum zu glauben, dass Deutschland als einziges Land der EU vor populistischen Parteien gefeit wäre.“

Als Gründe macht Parteienforscher Nestler die Krisen in Europa aus. „Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise. Das hat bei vielen Bürgern Ängste ausgelöst und spült nun diejenigen an die Macht, die scheinbar einfache Lösungen anbieten.“ Abschottung gegen die EU, Rückbesinnung auf nationale Identitäten. Der zunehmende Populismus auf dem Kontinent ist für Nestler das Symptom für die grassierende Vertrauenskrise. Ob sich die AfD in Deutschland etabliert? „Das wird erst die Bundestagswahl im kommenden Jahr zeigen.“

Wie verändert der AfD-Erfolg die Demokratie?

Für die Populismusforschung an deutschen Hochschulen beginnt mit dem Aufstieg der AfD eine riesige Feldstudie im eigenen Land – nicht nur an der Uni Rostock. Auch am Göttinger Institut für Demokratieforschung studiert man seit der Landtagswahl im März die Wahlprogramme der AfD. Seit dem Beginn des Wintersemesters vor drei Wochen findet dort erstmals die Lehrveranstaltung „Rechtspopulismus und die AfD“ statt. Jeden Montag spricht Seminarleiter Alexander Hensel mit Bachelorstudenten darüber, was die AfD von früheren rechten Protestparteien unterscheidet – und wie sich ihr Erfolg erklären lässt.

Populistische Parteien gibt es in Europa seit den 1980er Jahren. Als Globalisierungsgegner hatten der Front National in Frankreich und die österreichische FPÖ erste Erfolge. Heute reüssieren Populisten in ganz Europa. In Polen führt Beata Szydło von der rechtspopulistischen PiS-Partei die Regierungsgeschäfte. In Ungarn herrschen Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei mit seinem Konzept der „illiberalen Demokratie“. In Frankreich rechnen politische Beobachter mittlerweile damit, dass Marine Le Pen bei den Wahlen im April 2017 die Stichwahl erreichen wird. In Österreich ist die FPÖ in den Umfragen seit Monaten stärkste Partei und könnte im Dezember mit Norbert Hofer den Bundespräsidenten stellen. In Dänemark sind die Rechtspopulisten der Danks Folkeparti seit 2015 an der Regierung beteiligt.

In den südeuropäischen Ländern kleidet sich der Populismus dagegen im linken Gewand. In Griechenland hat sich Syriza gemäßigt und sich einstweilen der Brüsseler Spardoktrin ergeben. In Spanien scheiterte Podemos jüngst daran, mit den Sozialisten eine Regierung zu bilden. In Italien jedoch sorgt das Movimento 5 Stelle für Furore – Umfragen zufolge würde fast jeder dritte Italiener für die Linkspopulisten stimmen.

„Für mich als Forscher ist die aktuelle Entwicklung der AfD natürlich sehr spannend zu analysieren“, sagt Hensel. „Wir beobachten, ob sich die Partei trotz vieler Widerstände und Probleme bundesweit behaupten kann.“ An „österreichische Verhältnisse“ glaubt Hensel nicht. Aber der Erfolg der AfD wird die Demokratie verändern. Nur wie? Darüber streiten Forscher.

Einige wie der Politologe Jan-Werner Müller argumentieren, dass Populisten immer antipluralistisch seien – und damit eine Gefahr für die Demokratie. Dem widersprechen andere. „Eine antipluralistische Komponente als Teil einer populistischen Pose findet sich in der Frühphase von Parteien oftmals“, sagt Alexander Hensel. „Entscheidend ist, wie und wohin sich diese dann entwickelt“. Die AfD könne sogar ein Korrektiv für die deutsche Politik sein. Indem sie den etablierten Parteien aufzeigt, wie unpopulär ihre Entscheidungen sind. In der Verschärfung der Asylpolitik könne man das beobachten.

Blick nach Lateinamerika

Die Frage, wie die AfD die Demokratie ändert, kann man auch in eine andere Richtung wenden. Wird die AfD demokratischer, wenn sie in Parlamenten und Kabinetten sitzt? Bisher mussten Demokratieforscher für diese Fragen ins Ausland blicken. Etwa nach Lateinamerika, wo populistische Regierungen eine lange Tradition haben.

„Diese Frage stellt sich so für Deutschland zum ersten Mal“, sagt Politologin Diehl von der HU. „Populisten an der Macht können zur Demokratisierung führen durch neue Partizipationsmöglichkeiten, oder sie gleiten ins Autoritäre ab wie Hugo Chávez in Venezuela. Oder sie gleichen sich den etablierten Parteien an wie die FPÖ.“

Hugo Chávez

„Dies ist der Sieg des Volkes, ein Sieg der Wahrheit über die Lüge. Ich bin ein Soldat des Volkes“

Spricht man mit Populismusforschern in Deutschland, spürt man, dass eine verhaltene Aufgeregtheit herrscht. Einerseits ist man so nah wie nie dran an erfolgreichen Populisten. Andererseits will man keine vorschnellen – unwissenschaftlichen – Schlüsse ziehen.

Der Umgang mit Populisten ist eine riesige Feldstudie

Neu beleuchten könnte man vor allem die gesellschaftlichen Komponenten des Phänomens, sagt Dirk Jörke von der TU Darmstadt. Wer sind die Wähler? Die frustrierten Abgehängten oder die verängstigten Wohlstandsbürger? Werden populistische Parteien die neuen Arbeiterparteien? Wie entsteht aus Wut eine soziale Bewegung? Jörke forscht am Institut für Politikwissenschaft. Anfang 2018 soll unter seiner Leitung ein Sondersammelband zu Populismus erscheinen. Jörkes Eindruck ist: Es tut sich was in der deutschen Populismusforschung. „Vieles ist schon erforscht. Aber jetzt kann man empirische Daten sammeln und auch die Perspektive anderer Disziplinen hinzunehmen.“ Wie etwa der Psychologie oder der Soziologie.

An der Humboldt-Universität wird das bereits gemacht. Dort richtet das Institut für deutsche Literatur die Veranstaltungsreihe „Populismus und Politik“ aus. In der Auftaktvorlesung sprach der slowenische Philosoph Slavoj Žižek darüber, warum nur die Rechten von der gesellschaftlichen Wut profitieren. Thema der nächsten Veranstaltung: „What are the Emotions of Fundamentalism?“

„Man bräuchte die Öffnung für interdisziplinäre Systeme“, fordert Paula Diehl. Bestimmte Fragen könnten Populismusforscher nicht ohne andere Fachrichtungen beantworten. Etwa die Verbindung zwischen Populismus und Massenmedien. „Der beste Helfer für Donald Trump war CNN“, glaubt Diehl. Und bezogen auf die AfD sagt sie: „Die Journalisten müssen noch lernen, die Rechtspopulisten zu dekonstruieren“.

Auch der Umgang mit Populisten ist eine Feldstudie.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.