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Deutlich höherer FörderbedarfRabe legt Zahlen offen

Schulsenator agierte drei Jahre lang mit einer falschen Annahme. Nicht vier, sondern 6,6 Prozent der Viertklässler in Hamburgs Schulen haben Förderbedarf.

Sieht jetzt auf einmal doch Handlungsbedarf für die Klassen 5 und 6: Hamburgs Schulsenator Ties Rabe, der Besitzer dieser Hände Bild: dpa

Schulsenator Ties Rabe (SPD) hat am Donnerstag plötzlich doch die Zahlen der Kinder mit Förderbedarf in Lernen, Sprache und emotionaler Entwicklung (LSE) offen gelegt. Exklusiv im Hamburger Abendblatt gab er bekannt, dass 6,6 Prozent der heutigen Viertklässler laut externer Begutachtung durch Sonderpädagogen der Regionalen Beratungszentren diesen Bedarf haben. Doch die Schulen müssen seit Sommer 2012 mit einer viel kleineren Ressource für vier Prozent LSE-Kinder auskommen.

Pit Katzer vom „Bündnis für Inklusion“ hatte dieses Ergebnis geahnt und Rabe vergangene Woche in der taz Wahlkampftaktik vorgeworfen. Es sah so aus, als wolle er die Daten nicht bekannt geben. Denn die Test-Ergebnisse liegen seit dem 19. Dezember vor. Doch der Grünen-Schulpolitikerin Stefanie von Berg, die in einer Anfrage danach verlangte, wurden sie verweigert. Erst mit der Schuljahrsstatistik, so wurde sie abgespeist, würden diese berichtet. Und die gibt es im Herbst.

Doch den Vorwurf, er halte Zahlen zurück, ließ der SPD-Senator nicht auf sich sitzen. Er präsentierte sie nun samt eigener Deutung. „Es gibt weniger LSE-Kinder als behauptet und mehr als erwartet.“ In absoluten Zahlen: Von rund 12.900 Viertklässlern wurden 1.012 von den Grundschulen als LSE-Verdachtsfälle gemeldet. 868 stuften die Experten auch so ein, das sind 6,6 Prozent. Das Inklusionsbündnis habe stets von acht Prozent gesprochen, die Behörde von vier Prozent, fasst Rabe zusammen. Die Wahrheit liege nun in der Mitte.

Katzer widerspricht dieser Darstellung. Denn die Grundschulen haben diesmal nicht selber diagnostiziert, sondern nur für Kinder „Vorklärungsbögen“ ausgefüllt. „Dabei sollten auch Zweifelsfälle gemeldet werden“, so Katzer. Die gleichen Kinder hatten Sonderpädagogen der Grundschulen ein Jahr zuvor in der 3. Klasse diagnostiziert. Und dabei kamen sie auf 6,9 Prozent. Dieser Wert liegt nahe den nun offiziell eingeräumten 6,6 Prozent. „Die Abweichung ist gering“, sagt Katzer. Sinnvoll wäre, letzteren Wert für alle Jahrgänge zur Grundlage zu nehmen. Dafür brauche man etwa 390 Stellen, die 24 Millionen Euro kosten.

Auch Rabe sieht erstmals Handlungsbedarf. Allerdings nur in den 5. und 6. Klassen. Er versprach, ab Sommer 2015 werde es in zwei Schritten je 30 Lehrkräfte zusätzlich geben.

Rabes Einlassungen lösten Kritik aus. Denn der Streit um die LSE-Quote tobt seit Frühjahr 2012. Auch damals lag die Zahl der von den Schulen gemeldeten LSE-Viertklässlern bei über sechs Prozent. Rabe kündigte an, man werde alle diese Fälle noch einmal prüfen. Doch im Herbst räumte seine Behörde kleinlaut ein, dass die Zahlen stimmten.

Auch in den Schuljahren 2013/14 und 2014/15 starten die Schulen mit – rückblickend bestätigt – fast Zweidrittel Unterausstattung. Rabe gewann Zeit, in dem er die Uni-Professoren Karl-Dieter Schuck und Wulf Rauer beauftragte, den LSE-Anstieg zu untersuchen. Doch auf deren Fazit – die LSE-Quote von 6,6 Prozent sei für eine Großstadt plausibel – gab er wenig, und ordnete für diesen Herbst die Einzel-Gutachten an – gegen den ausdrücklichen Rat von Rauer und Schuck.

CDU-Politikerin Karin Prien riet Rabe, seine Zahlen nicht schönzureden. „Bisher hat er den Lehrern immer vorgeworfen, sie übertreiben. Nun bestätigt sich, dass sie Recht hatten.“ Es sei eine „Schande“, dass er ihnen nicht vertraute. Für den Grünen-Spitzenkandidat Jens Kerstan lieferte Rabe eine „bemerkenswerte Fehleinschätzung“. Seine Fraktion hatte Inklusionsfonds von 15 Millionen Euro gefordert, um Schulen zu helfen. „Rabe hat immer wieder behauptet, dies sei unnötig, weil die Schulen sich Fallzahlen ausdenken“, sagt von Berg. Dies sei „ein für alle Mal widerlegt“.

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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Notorisches Ignorieren von Fakten oder nur nachhaltige Unkenntnis ziehen sich wie ein roter Faden durch schulpolitische Beiträge der Autorin. Nun mag auch nicht jeder Genosse immer mit dem einverstanden sein, was unser Bildungssenator macht, doch ist seine Aufgabe auch nicht die, ein Wunschkonzert zu veranstalten. Zumindest möchte ich die Autorin darauf hinweisen, dass die Herbststatistik so genannt wird, weil der Stichtag der Erhebung im Herbst (September) liegt. Nach Aufbereitung und Validierung der Daten wird diese Statistik dann recht regelmäßig im Zeitraum Februar/März veröffentlicht. Auch wenn das Wetter in diesem Jahr noch recht herbstlich anmutet, ist da wohl kaum von einer Veröffentlichung im Herbst zu schreiben, wie es die Autorin wiederholt getan hat. Ein wenig weniger parteipolitische Unterstützung des grünen Wahlkampfs, ein wenig mehr Faktenprüfung oder zumindest der Versuch, sich Fakten aus verlässlichen Quellen zu besorgen und zu würdigen, würde die Glaubwürdigkeit der Beiträge erhöhen. JA: 6,6 % der Viertklässler in Hamburgs Schulen haben Förderbedarf und da muss etwas getan werden. Aber auch JA: der Förderbedarf bei den AutorInnen im Schulressort der taz.hamburg scheint höher zu liegen.

    • @Henning Reh:

      Geschenkt, Herr Reh!

      Was bleibt, sind Schüler, die in den bald 4 Jahren ihrer Grundschulzeit einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung hatten und nicht erhalten haben. Von 100 Schülern immerhin 2,6 Schüler!!! Und da dem Senator diese Zahlen seit Einführung der Inklusion vorlagen und er von allen Seiten immer wieder darauf hingewiesen wurde (steht ja im Artikel und ist auch so) ist das entweder ein riesen Fehler oder große Ignoranz und Verantwortungslosigkeit! Insbesondere gegenüber den Kindern und Schulen. Klären Sie bitte erst mal Ihren EIGENEN Förderbedarf und begreifen sie den Ernst des Themas, bevor Sie sich über die Autorin lustig machen!

       

      Karsten Beeck

      • @Karsten Beeck Beeck:

        Lieber Herr Beeck,

         

        Besten Dank für Ihre Antwort. Einerseits verkenne ich keineswegs die Problematik und andererseits mache ich mich nicht über die Autorin lustig. Zumindest war dies nicht meine Intention. Sofern es dennoch so erscheint, bitte ich um Entschuldigung. Ich möchte aber durchaus mehr inhaltliche Qualität in der Berichterstattung einfordern dürfen. Und deshalb auch noch soviel: wenn der diagnostizierte Anteil um 2,6 Prozentpunkte höher liegt, als die systemische Ressource, so bedeutet es nicht, dass 2,6 von 100 Schülern nicht gefördert wurden. Es bedeutet, dass geringere Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden, als wohl erforderlich sind. Da Inklusion eigentlich bedeutet, dass im Regelfall keine (unter Umständen stigmatisierende) Einzelfalldiagnostik erfolgt, sind die zur Verfügung stehenden systemischen Mittel auf eine breitere Bedarfsgruppe verteilt worden. Das ist nicht gut. Aber das bedeutet nicht, dass in beinahe jeder Klasse ein Kind ungefördert blieb. Das wäre eine Einschätzung, die den zum Teil herausragenden und zumeist sehr verantwortungsvollen Leistungen unserer Lehrerinnen und Lehrer, den SozialpädagogInnen und aller weiteren beteiligten Professionen nicht gerecht wird. Diese Zahlen lagen auch dem Senator vor der Einführung der Inklusion nicht vor. Vielmehr lag eine Vielzahl von Einschätzungen vor und innerhalb dieser Bandbreite hat er eine Entscheidung getroffen. Lassen Sie uns froh sein, dass nun verlässliche erhobene Daten vorliegen und lassen Sie uns mit diesen Daten arbeiten.

         

        Herzlichst

         

        Henning Reh

        • @Henning Reh:

          Lieber Herr Reh

           

          Danke für Ihre Antwort. Natürlich bin ich mir im Klaren, dass die Ressourcen auf die gesamte Bedarfsgruppe verteilt werden. Kann ich die Aussage des Senators trotzdem für bar nehmen, dass er plant lediglich Mittel für die Klassen 5 und 6 zu verbessern? Mir ist klar, dass das für alle Jahrgänge verdammt teuer wird. Aber es kommt mir nicht logisch vor, die Kinder erst 4 Jahre später ausreichend zu fördern.

           

          Eine Einzelfalldiagnostik ist immer eingefordert worden und ist nach meiner Einschätzung auch in inklusiver Beschulung sehr wichtig. Ich empfinde sie in dieser Hinsicht nicht als Stigmata sondern als notwendiges Mittel, um wichtige Erkenntnisse für den Unterricht und eine solide Förderung zu gewinnen. Leider ist uns Sonderpädagogen, bzw. Grundschulpädagogen das fachliche Vertrauen in die Beurteilung kürzlich abgesprochen worden, mit der Einführung der 10seitigen Vorklärungsbögen.

           

          Abschließend möchte ich Ihnen noch sagen, dass ich mich über Ihre wertschätzenden Worte über das Vertrauen in das Schulpersonal gefreut habe! Ich wünschte, meinem obersten Vorgesetzten käme das nach gut 3 Jahren auch mal über die Lippen...

           

          Freundliche Grüße,

           

          Karsten Beeck