Desinformation: Mauer in Geiselhaft
Die East Side Gallery ist den Aktivisten von „Mediaspree versenken“ herzlich egal. Sie bedienen sich ihrer, um damit ganz andere Ziele durchzusetzen.
Wer tausende Menschen zu einer Demonstration mobilisieren will, der muss eine zündende Botschaft haben. Und diese Botschaft lautet: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion haben Bauarbeiter am Freitag damit begonnen, einen der letzten Mauerreste niederzureißen, damit dort Luxuswohnungen entstehen können.
An dieser Botschaft stimmt so gut wie nichts. Aber sie zündet. Und sie wird von Journalisten inzwischen weltweit weiterverbreitet.
Fakt 1: Die Mauer fällt hier nicht für Luxuswohnungen
Das Stück der Mauer, das am Freitag von Bauarbeitern herausgerissen wurde, fiel für eine Brücke. Nicht für Wohnungen. Zwar soll auch ein Teil der Mauer für Wohnungen fallen. Aber erst später und an einer anderen Stelle.
Bei der Brücke, die an dieser Stelle wieder aufgebaut wird, handelt es sich um die Brommybrücke, die hier bis 1945 stand. Dann sprengten die Nazis die Brücke, um den Vormarsch der Roten Armee aufzuhalten. Heute sieht man noch einen Stützpfeiler in der Spree. Die Idee zum Brückenbau kam nach der Wende auf, dann passierte erstmal lange nichts. 2008 schließlich setzte die Initiative "Mediaspree versenken" einen Bürgerentscheid durch, bei dem sie sich dafür einsetzte, dass keine Straße, sondern "ein Rad-/Fußgängersteg über die Brücke gebaut wird" (Abstimmungszettel als PDF). 87 Prozent der Abstimmenden waren dafür.
In einer Broschüre der Initiative "Mediaspree versenken" steht in der PDF-Datei auf Seite 13 oben links eine Grafik, auf der zu sehen ist, dass für die Brommybrücke auch eine neue Lücke in der Mauer entstehen soll. Nirgendwo in der Broschüre wird dies als Problem beschrieben.
Es ist genau dieses Stück Mauer, das jetzt abgerissen wird - und zwar auf 22 Metern Breite. Auf Bildern kann man das nachvollziehen. Fotos vom Freitag zeigen: Abgebaut wird ein Mauerteil an der Grenze zweier Bilder. Links ein Brandenburger Tor in blau, rechts viele Hände in blautönen. Man kann diese Stelle bei Google Street View finden. Und dann herauszoomen und sehen: Es ist genau dort, wo auf Kreuzberger Seite die Brommystraße beginnt, wo in der Spree noch ein Brückenpfeiler ist und wo die Brommybrücke auf der Friedrichshainer Seite auf die Mühlenstraße treffen wird. Der Abriss dieses Teils der Mauer hat ausschließlich mit der Brücke zu tun und gar nichts mit Luxuswohnungen.
Fakt 2: Die Mauer hat schon Löcher
Es ist eine beliebte Forderung in diesen Tagen: Die East Side Gallery muss als Mahnmal vollständig erhalten bleiben! Doch die Forderung kommt zu spät. Die East Side Gallery hat auf ihrer Länge von gut 1.300 Metern in den gut zwei Jahrzehnten seit der Wende bereits fünf Löcher bekommen. Da ist die Lücke ganz im Westen, die mit einem Tor verschlossen ist. Dann kommt eine Lücke mit dem Zugang zu einer Strandbar. Gegenüber der großen Mehrzweckarena folgt eine besonders breite Lücke. Es folgt eine Lücke mit Bootsanlegestelle und Souvenirshop und schließlich eine Lücke für den Zugang zum Club und Restaurant "Speicher".
Fakt 3: Die Lücke für Luxuswohnungen ist die kleinere Lücke
Auch für die Luxuswohnungen sollen später einmal Teile der Mauer fallen. Und zwar dort, wo schon ein fünf Meter breiter Mauerdurchbruch ist. Bisher wurde diese Lücke in der Mauer benötigt, um zu einer Strandbar zu gelangen. Bisher gab es noch keine Proteste gegen die Strandbar. Die Luxuswohnungen sollen über eine etwas breitere Lücke an die Straße angeschlossen werden. Der Bezirk war dagegen, er hat es nicht erlaubt. Doch der Investor ist vor das Verwaltungsgericht gezogen. Die Lücke wird daher eines Tages von derzeit 5 Meter auf dann 12,80 Meter vergrößert.
Hätte man den Bau der Luxuswohnungen nicht ganz verhindern können? Wie konnten die hier überhaupt erlaubt werden? In den Neunzigerjahren entstand die Idee, das ganze brachliegende Gebiet zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke zu bebauen. Das Schlagwort war "Mediaspree", zahlreiche Unternehmen aus der Medien- und Kommunikationsbranche sollten sich hier ansiedeln.
Anfang der Neunzigerjahre wurde das Grundstück, auf dem jetzt gebaut wird, verkauft. Noch vor der Fusion der Bezirke Friedrichshain und Kreuzberg im Jahr 2001 wurde hier ein Bebauungsplan aufgestellt, der eine Bebauung mit einem Hochhaus vorsieht. Damit hatte der Eigentümer einen Anspruch auf Bebauung. Wer ihm diesen Anspruch wieder wegnimmt, muss ihn entschädigen.
Zuletzt versuchte der inzwischen fusionierte Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg noch einmal im September 2012, das Hochhaus zu verhindern. Stattdessen solle eine Grünfläche entstehen, forderte das Bezirksparlament (Drucksache DS/0345/IV). Der Senat wurde aufgefordert, dem Eigentümer des Grundstücks eine Ausweichfläche an anderer Stelle zur Verfügung zu stellen. Dadurch sollte eine Entschädigung an den Investor verhindert werden.
Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos, für die SPD) lehnte ab. Am 23. November 2012 schrieb er an Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne): Es gebe kein "gesamtstädtisches Interesse" (hier der Brief Seite 1 und Seite 2). Das ist der Grund, warum jetzt die Luxuswohnunge kommen - inklusive Anschluss an die Straße durch eine etwas verbreiterte Mauerlücke.
Fazit
Und jetzt kommen wieder die Aktivisten aus dem Umfeld von "Mediaspree versenken" ins Spiel: Sie waren immer schon gegen die Bebauung der Spreeufers. Dass für diese Bebauung auch eine Mauerlücke um 7,80 Meter vergrößert werden soll, ist ihnen nun willkommener Anlass, den Untergang eines historischen Baudenkmals auszurufen. Und zwar genau des gleichen Baudenkmals, bei dem es ihnen herzlich egal ist, wenn es auf 22 Metern für eine Brücke fallen soll. Und dann protestieren die Aktivisten auch noch am falschen Tag und am falschen Teil der Mauer: Sie verkaufen eine Brückenlücke als Luxuswohnungslücke. Und alle fallen darauf rein.
Siehe auch: Antwort der Piraten Fabio Reinhardt und Ralf Gerlich zu diesem Artikel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles