: Derart verfremdet
■ betr.: „Kind sucht Garten“, taz vom 18.9.93
Mit Bedauern und Mitgefühl haben wir die schier endlose Odyssee eines taz-Schreibers auf der Suche nach einem Kindergartenplatz für seinen Sohn gelesen.
Wir können ihm aus voller Seele nur beipflichten, daß es ein Skandal ist, daß immer gerade dann, wenn man einen Kindergartenplatz sucht, keiner da ist. Allerdings sei hinzugefügt, daß dieser Zustand jedem halbwegs informierten Menschen durchaus seit langer Zeit bekannt sein könnte. Vielleicht hätte der bemitleidenswerte Vater in diesem Punkt auf seine offensichtlich weniger blauäugige Gattin hören sollen und ein wenig früher mit der Suche beginnen sollen — es wäre ihm sicher eine Menge Hektik erspart geblieben. [...]
Phantastisch schon der Einstieg: „Beim reinkommen riecht es streng nach Urin“ und das Spielzeug sei „trostlos abgenutzt“. Die Formulierungen suggerieren einen dunklen Kinderladen, in dem es mit der Hygiene nicht so genau genommen wird. der unvoreingenommene Besucher wird allerdings zu einem athmosphärisch anderen Eindruck kommen [...], so daß uns nur die Deutung bleibt, daß der Schreiber den Geruch beim Reinkommen selbst mitgebracht hat.
Die folgende Beschreibung einer Erzieherin als „langausgestreckte Nurse“, die gelangweilt den „gestiefelten Kater heruntersunzt“, weist allerdings deutliche Klischeeschwächen auf. Weiß der Mann denn nicht, daß in Kinderläden Willi Wiberg vorgelesen wird, oder der Anti-Struwelpeter, aber doch nicht „der gestiefelte Kater“! Beim besten Willen: Dieses Buch führen wir nicht! [...]
Und abschließend die Abrechnung mit den Unmenschen, die es gewagt haben, seinem Stammhalter nicht den Platz zu geben. Nahezu unmenschliche Forderungen wie Elternmitarbeit, Mitbestimmung, undundund werden da an ihn gerichtet. [...]
Welch ein Glück, daß der geplagte Vater letztendlich doch noch einen schönen kirchlichen Hort gefunden hat. [...]
Zu guter Letzt verwundert den Leser noch ein unauffälliger Aufruf, dem „lieben Onkel Voscherau“ seine Stimme zu geben — schließlich hat Sohnemann doch einen Platz in einer christlichen Einrichtung bekommen.
Da der Kinderladen 100 Blumen in beschriebener Weise für die Story und das Weltbild des Verfassers derart verfremdet beschrieben wurde, erlauben wir uns, die Story mit einigen Überlegungen zu kommentieren.
Zur Arbeitsweise des Verfassers: Es zeugt schon von einem seltsamen journalistischen Verständnis, sich die Situation, die man für seine Story braucht, selbst herzustellen. Es sollte wohl jedem klar sein, der sich um einen Kinderladenplatz bemüht, daß solche Läden ohne Elternmitarbeit überhaupt nicht überlebensfähig sind. Wer, wie der Verfasser, völliges Desinteresse daran zeigt, provoziert damit selbstverständlich seine Ablehnung. Im übrigen stellt es für uns einen herben Vertrauensverlust dar, von jemandem, den wir zum Bewerbungsgespräch eingeladen haben, völlig unvermittelt und verfremdet für seine Story mißbraucht worden zu sein. [...] die ErzieherInnen sowie Eltern des Kinderladen 100 Blumen, Hamburg
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