: Der zornige junge Mann
Boris Becker schrammte in Stuttgart knapp an der Disqualifikation vorbei / Angeknackstes Nervenkostüm ■ PRESS-SCHLAG
Ich belästige niemanden, aber er belästigt alle“, raunzte Boris Becker laut vernehmlich in die Stuttgarter Martin -Schleyer-Halle, als ihn der Supervisor zur Besonnenheit mahnen wollte. „Er“, das war der australische Schiedsrichter Richard Ings, der Becker bei jedem anderen Turnier der Welt spätestens jetzt des Feldes verwiesen hätte. Im ersten Satz des Erstrundenmatches der „Stuttgart Classics“ gegen den Australier Broderick Dyke hatte Ings dem Deutschen wegen einer Nichtigkeit - er hatte einen aus dem Publikum geworfenen Ball zurückgeschlagen - eine Verwarnung erteilt. Becker explodierte wie ein Kanonenschlag, titulierte den Referee als „Schande für das Tennis“ und kassierte prompt einen Punktabzug. Als nächster Schritt wäre nur die Disqualifikation in Frage gekommen, ein Schicksal, das John McEnroe bekanntlich in Melbourne widerfahren war.
Daran erinnerte sich wohl auch Becker, denn eine Zeitlang blieb er still. Er gewann den ersten Satz mühselig im Tiebreak, und alles schien nun seinen erwarteten Gang zu gehen. Da aber wurde ein Aufschlag Beckers, den Dyke unerreichbar retournierte, von der Linienrichterin zum Entsetzen des rotblonden Nervenbündels gut gegeben. Schallend krachte der Schläger zu Boden, weitere unfreundliche Worte folgten, und Mister Ings gefror auf seinem Hochstühlchen. Eigentlich hätte er Becker disqualifizieren müssen, aber inzwischen war wohl auch ihm bewußt geworden, daß es gut und gern das Ende seiner Schiri -Karriere bedeuten könnte, Boris Becker bei einem Turnier Ion Tiriacs in Stuttgart gleich in der ersten Runde rauszuwerfen.
Schließlich war gerade Lokalmatador Carl-Uwe Steeb überraschend glatt mit 3:6, 1:6 gegen den Israeli Amos Mansdorf ausgeschieden, und wenn jetzt noch das Duell der Topgesetzten Lendl und Becker geplatzt wäre, hätte kein Hahn mehr nach den „Stuttgart Classics“ gekräht. So blieb Becker selbst nach seinem letzten Ausfall (siehe oben) verschont und gewann schließlich gegen den tapferen Dyke den zweiten Satz mit 6:2.
„Es ging alles so schnell, ich konnte nicht einmal denken, oh mein Gott, was jetzt, wenn es passiert“, beschrieb Ion Tiriac später die Gefühle, die ihn angesichts der mangelnden Selbstbeherrschung seines Schützlings beschlichen hatten. Möglicherweise wird er sich jedoch an solche Wechselbäder ge
wöhnen müssen, denn schon in seinem berühmten 'Sports' -Interview präsentierte sich Becker zwar als allseitig gereifter und nachdenklicher Mensch, ließ aber ausgerechnet in puncto Tennis eine merkwürdige und allgemeine Verunsicherung erkennen. Gedanken an ein baldiges Ende seiner Karriere korrespondierten mit dem brennenden Ehrgeiz, endlich der Beste von allen zu sein, und im Hochgefühl seiner letzten Siege gegen Ivan Lendl bezichtigte er gar den Weltranglistencomputer der Lüge und ernannte sich kurzerhand selbst zur Nummer 1 vor Lendl.
Der Höhenflug endete abrupt, als er Anfang Januar in Sydney gegen Steeb verlor und in Melbourne gar von dem längst abgehakt geglaubten Wilander aus dem Turnier geworfen wurde, während der gemeine Ivan unverfroren begann, Sieg an Sieg zu reihen und den Punkteabstand in der Rangliste ins fast Unermeßliche zu vergrößern. „Der gewinnt alle Turniere, an denen er teilnimmt“, jammerte Becker und entdeckte resignierend, daß er „vielleicht noch fünf Jahre“ brauchen würde, um an dem Tschechoslowaken vorbeizukommen. Sein Ehrgeiz erlahmte abrupt, und auf einmal erwog er sogar, doch noch Ende März am Davis Cup in Argentinien teilzunehmen, was wiederum seine Mannschaftskameraden, die sich gerade an ein Leben ohne Becker gewöhnt hatten, arg verunsicherte.
Und mitten in einer derartig heftigen tennismäßigen Identitätskrise kommen aufschlagstarke Weltranglistenunterlinge wie Broderick Dyke oder Guy Forget daher, erdreisten sich, beinahe zu gewinnen, und als sei das alles noch nicht genug des Ungemachs, glaubt ein nichtswürdiger Mister Ings plötzlich den großen Mann herauskehren zu müssen. Wahrhaft empörend! „Roboter gegen Computer“ würden bald nur noch spielen, wenn es so weiterginge, meinte Becker, Gelegenheit, diese Variante auszuprobieren, könnte er im Stuttgarter Finale haben, sollte er es denn undisqualifiziert erreichen. Da wartet mit größter Wahrscheinlichkeit Seine Majestät Ivan I. auf seinen selbstdesignierten Thronfolger. Der kühle Despot im Reich der Centre Courts hat nur milde Verachtung für die profanen Beschwerden seines Gefolges über geltungssüchtige Schiedsrichter, unterdrückte Emotionen und Turnierstreß: „Ich kümmere mich nicht darum!“
Matti
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