: Der zerrissene Vorhang
Zum Phänomen des neuen sowjetischen Dokumentarfilms ■ Von Oksana Bulgakowa
Über den sowjetischen Dokumentarfilm wird zur Zeit gern geschrieben — im Osten wie im Westen. Man feiert ihn als den (Vor-)Boten von Glasnost. Retrospektiven bei Festivals, Aufmerksamkeit des Fernsehens, schließlich die Eröffnung eines Dokumentarfilmkinos im Zentrum Moskaus (dieses Objekt der Bewunderung von ausländischen Kritikern und Filmemachern ist aber leider meist leer)...
Eine Zeitlang wurde der Dokumentarfilm gegen den Spielfilm ausgespielt: in dem einen passierte alles, in dem anderen nichts. Veränderungen waren nicht zu übersehen: Früher filmte man große Baustellen, jetzt die gewaltigen Zerstörungen, ihre Folgen und die Ausgestoßenen: Drogenabhängige, Prostituierte, Sträflinge, „den sozialen Underground“; oder Dissidenten, Emigranten, skurrile Wahrheitssucher und Patienten von Nervenanstalten, „subversive Elemente“ traten an die Stelle der Aktivisten und Deputierten mit vor lauter Staatsorden erweiteren Brustkörben. Keine pathetischen Hymnen mehr auf die großen Siege: Stacheldraht und entdeckte Massengräber in Lagern sind die neuen Denkmäler der Revolution. Die Helden von früher sind heute Henker, die Volksfeinde von früher — Helden. „Demythologisierung der Geschichte“, „neue soziale Phänomene“, „Verzicht auf ästhetische Kanons“, „Eindringen in die Realität“, „Beichte“ — mit solchen Schlagworten wurde dieser Dokumentarfilm beschrieben.
Nun sind fünf Jahre Perestroika und Glasnost vergangen. Ein nationales und ein internationales Dokumentarfilmfestival wurden in der Swerdlowsk und in Leningrad etabliert. Die Stadt Augsburg flog in diesem Frühling 35 Macher und über 100 Filmkopien ein, um mit dem weltweit bewunderten Phänomen vertraut zu machen. Man konnte jeden Tag acht Stunden lang sowjetische Dokumentarfilme sehen. Die der letzten Jahre, aus allen Republiken und Regionen. Das tat ich. Ergebnis: Depression.
Die hatte zweierlei Gründe. Einerseits die porträtierten Lebensphänomene, die unrettbare Endzeitstimmung verbreiteten. Andererseits das Kino, das damit munter ein Geschäft betreibt. Glasnost auf der Leinwand verkauft sich gut, international gar besser als national.
Das alte mythologische System war kaum zerstört, sofort wurde ein neues aufgebaut. Konfusion und Panik angesichts der unsteten Situation führte bei den Filmemachern zu dem Versuch, die Wirklichkeit zu mumifizieren und in die Schranken neugefundener Kanons zu zwängen: Jetzt sind alle Opfer der Stagnation oder zumindest der Geschichte. So werden die alten Stereotypen reanimiert — mit veränderten Vorzeichen. Aus plus wurde minus, aus schwarz weiß.
Die frühere Mythologie bestand aus Bildern von Mähdreschern auf Feldern, glücklichen Kindern, Arbeitern am Hochofen. Nun sehen wir schon wieder immer nur Stalin, in der Nachbarschaft von Sport- und Militärparaden (das stets neubenutzte alte Dokumentarmaterial ist auf ein paar Meter reduziert, die Archivaufnahmen werden dabei genauso ideologisiert wie früher), zerstörte Kirchen, brennende Kerzen, Messen, Heimkehrer aus Afghanistan, Krüppel, verlassene Dörfer, kaputte Natur und endlose Schlangen nach Wodka. Neue Verklärung anstelle der alten. Natürlich sind die neuen Stereotypen etwas näher an der Realität als die alten, aber das Ergebnis bleibt das gleiche: Sie drohen, die Macher in die Sackgasse simpler politischer Spekulationen zu manövrieren.
Im „neuen sowjetischen Dokumentarfilm“ dominiert pathetische Politisierung. Dieses Pathos imitiert oft eine Autorenposition. Dabei wird die Historie genauso oberflächlich analysiert wie vorher, die alte Halbwahrheit durch eine neue ersetzt. Wir wissen immer noch nichts über die realen Zwänge von Bucharin und Tuchatschewski, dafür bewundern die Dokumentaristen, daß der eine Tiere und Kinder streichelte, der andere Geige spielte — die alte Ikonographie der Lenin- und Stalin-Darstellung wird auf neue Figuren übertragen. Beim Dokumentieren der politischen Umwälzungen herrscht völlige Hilflosigkeit, seien es Demonstrationen in Armenien (Theaterplatz) oder in Estland (Das Jahr des Drachens). Der Film als Flagge auf der politischen Barrikade ist aber nicht ungefährlich: Das Land befindet sich im Zustand des Bürgerkriegs: Aserbaidschaner töten Armenier, Letten sind gegen Russen, Russen gegen Juden, Usbeken gegen Kurden. Und die Dokumentaristen meinen, sie dokumentierten „nur“: Die Zuschauer indes können diese Beobachtungen (mit dem schlechten Originalton) unverständlicher Reden auf Meetings in den nationalen Sprachen auch als Anstiftung zur Gewalt nehmen. Die aufgebrachten Massen auf Plätzen und in Stadien wirken bedrohlich, die Filme dagegen sprachlos.
Der Dokumentarfilm ist kraftlos. Er hat seine Rolle als Anwalt eingebüßt (die soll nun endlich die Justiz übernehmen), was ist er dann? Diese Frage wurde noch nicht gestellt. Er ist immer noch der alte Entlarver, doch die Macher und Zuschauer spüren, es ist eine Rolle. Menschen sehen die Filme und gehen nach Hause. Auch Politiker. Trotz der erschreckenden Bilder. Vielleicht ist es so, weil es keine wirksamen Strukturen gibt, Änderungen zu erzwingen, selbst wenn etwas öffentlich entlarvt wird? Wozu dann die Entlarvung, wenn es nichts (oder spät und wenig) bewirkt? Der Dokumentarfilm verpufft mitsamt Empörung, und seine im Westen bewunderte Brisanz im Vakuum der Tatenlosigkeit tritt als Bittsteller auf.
Der Spielfilmregisseur Stanislaw Goworuchin, sonst eher aggressiver Vorkämpfer für nationale Unterhaltung, drehte einen langen Dokumentarfilm, So kann man nicht leben!, als „Brief an die Regierung“, die nichts über das Leben des Volkes weiß. Als Brief an Gorbatschow. An den guten Zaren, der die Wahrheit nur erfahren muß und dann alles ändert. Gesegnet sei diese Utopie: Die Magie der unausgesprochenen Wahrheit, der gute Zar oder die Kunst könnten das Leben ändern — als eine Kraft von „außerhalb“. Immer im Glauben an ein Wunder.
Das ist der verzweifelte Zustand sowjetischer Gesellschaft von heute. Mittelbar wird er in der Position der Filmemacher gespiegelt. Am deutlichsten wird die Hilflosigkeit des Dokuments und der Filmkunst in den erschütternden Öko-Filmen Mikrofion, Schwelle, Müde Städte, Tote Zone. Das Erschütterndste daran ist nicht die Vernichtung der Natur und somit der Menschheit, sondern die Kraftlosigkeit — der Filmemacher und Wissenschaftler — gar im Sozialismus, der „planmäßig“ die Natur ausbeutet, gar jetzt, in Zeiten von Glasnost Änderungen zu bewirken. Fünf Jahre hat man gebraucht, bis Tschernobyl als nationale Katastrophe „anerkannt“ wurde. Dabei meinen Wissenschaftler, die ökologische Situation im ganzen Land sei noch viel schlimmer, als es die Filme zeigen. Das Bewußtsein der Menschen, der Arbeiter in diesen Werken und der Zuschauer dieser Filme, ist verkrüppelt. Sie können nicht recht für die Schließung der Kombinate demonstrieren, dann verlieren sie ihre Arbeit. Die Situation, in der die Menschen zwischen dem Bösen und dem Bösen wählen und abwägen müssen, welches ungefährlicher sein mag, ist nicht normal. Und die Filme bieten keine „Alternative“. Sie porträtieren bestenfalls das Amoralische der Situation, die Verkrüppelung des Bewußtseins und — die Sackgasse.
Staatssubventionen und Freiheitsdenken
Der Staat subventioniert die Dokumentarfilme. Früher wurden die Apotheosen bezahlt, heute die Glasnost-Filme, eigentlich eher die subversiven. Gegen die angeblich alte, aber immer noch existierende Ordnung. Dank welcher aber die Filme entstehen können. Die Streichung der Subventionen scheint den sowjetischen Dokumentarfilmern noch nicht zu drohen. Sie meinen, sie schaffen es. Obwohl deutlich zu merken ist: Die Jungen gehen nicht mehr zum Dokumentarfilm. Darüber denken die jetzigen Macher erst einmal nicht nach, die Neuen sind ja zunächst nur Konkurrenz. So sind es oft die alten Macher. Früher haben sie die bestellten Filme gemacht, heute erfüllen sie wieder einen gesellschaftlichen Auftrag.
Die Studiodirektoren, die das neue ökonomische Modell als ihr großes Überlebensproblem auf sich zukommen sehen, sehen das anders: Langfristig sollen die Dokumentarfilmstudios sich selbst finanzieren und ohne Subventionen auskommen. Sogar Gewinn bringen. Bis dato bekamen sie ihr Geld vom Verleih (aus Rußland etwa 22 Millionen Rubel). Dem Verleih brachten sie keinen Gewinn. Dafür alle Rechte, mit denen er herzlich wenig anfangen konnte. Einige Studios folgten dem Appell des Filmverbandes, der ein Selbstfinanzierungsmodell für Studios aller Art (Trick-, Spiel-, Dokumentarfilme) ausgearbeitet hat und nun durchsetzen will. Darin wird vorgeschlagen, erst einmal die Preise für Eintrittskarten zu heben (doch wer bezahlt schon Geld, um einen Dokumentarfilm zu sehen?) oder die ohnehin schon niedrig gehaltenen Produktionskosten zu senken (eine Utopie). Und die Studios sollen „Nebenstrecken betreiben“: Kabel (fürs Fernsehen) legen, oder ein Studio „organisiert“ eine Uhrenwerkstatt, ein drittes baut Gartenhäuschen, um damit die laufende Filmproduktion zu finanzieren...
Der Direktor des Leningrader Studios nannte das Modell „organisierten Selbstmord und eine Katastrophe für das Überleben des Genres“. Er steht mit dieser Position alleine da. Das schlechte Filmmaterial, dessen Lieferungen jetzt — wegen der strengeren Gütekontrollen — immer häufiger ausbleiben, reicht nicht aus. Der Dokumentarfilm steckt in einer Krise, einer nicht nur ästhetischen oder mit seinem Selbstverständnis verbundenen, auch einer ganz realen, finanziellen. Bis heute läuft alles „wie immer“ — noch.
In der geschlossenen Gesellschaft, wie die Sowjetunion früher eine war, gab es brisante Dokumentarfilme mit eigener Existenzberechtigung. Auf den „inneren“ Zuschauer gerichtet. In der Situation des sich öffnenden Landes kam es zur unfreiwilligen Absurdität von Botschaft und Bestellung. Für wen sind die Filme heute bestimmt? Channel Four bestellt einen Film bei dem Erfolgsregisseur Juri Podnieks. Zunächst glaubten die Engländer, daß der Regisseur von Ist es leicht, jung zu sein? für sie die Rock-Oper von Alexej Rybinkow, Eine Messe für Verrückte, abfotografiert. Drei Monate lang saß er in einem Kloster und drehte dort Jugendliche aus „nicht-formellen Vereinigungen“ (das neue Universalwort für alle und alles zwischen Fußballfans, Briefmarkensammlern, Faschos, Punks etc.) Schließlich aber stürzte sich Podnieks, mit bester Technik und hochempfindlichem Filmmaterial ausgestattet, auf die wundesten Punkte und spektakulärsten Ereignisse der letzten fünf Jahre: die Tschernobyl-Katastrophe und das Erdbeben in Armenien, Pogrome in Sumgait und brennende Menschen in Fergana, Tausende zerrissene Parteibücher auf den Sargdeckeln in Jerewan, Opfer in Tbilissi, Parlamentsdebatten und Straßenmeetings überall, die nationale Bewegung in Lettland, deren ausgereiste, weil vom KGB bedrohte Leader, der aggressive Ausbruch der Afghanistan-Heimkehrer auf dem berühmten Platz vor dem Winterpalais und die nicht minder aggressive Miliz...
Manchmal kam der Regisseur zu spät. Dann benutzte er fremde Aufnahmen: zum Beispiel die ersten Bilder in dem zerstörten Atomkraftwerk. Er selbst drehte eine noch „funktionierende“ Chemiefabrik bei Jaroslawl: Frauenarbeit, viel zu schwer, viel zu schmutzig, viel zu schlecht bezahlt. Und ein Interview mit der Gewerkschaftsfunktionärin dazu, die noch mit den alten Parolen die Emanzipation preist. Dazwischen werden immer wieder Proben zu der neuen Rock-Oper von Rybnikow eingeschnitten. Podnieks macht einen Film über die tiefe politische Krise im ganzen Land — zwischen der Ostseeküste und seinen südlichen Grenzen. Apocalypse now, wie sie eigentlich aus einfachen sowjetischen Fernsehnachrichten zusammengeschnitten werden könnte. In einem Interview gab er zu, daß er keinen Plan für den Film hatte.
1987 hat sich das KGB noch oft in die Arbeit eingemischt und das Gedrehte „verhaftet“, doch die Situation änderte sich laufend. Nun ist die englische Fassung fertig. Fünf Teile à 55 Minuten. Das Ganze hieß zunächst Soviets, dann weniger verallgemeinernd Hallo, hört ihr uns? Die russische Fassung (auf VHS-Kassetten) vertreibt die Zeitschrift 'Ogonjok‘, die sich die Exklusivrechte verschafft hat — unter dem vieldeutigen Titel Wir. An der Kinofassung schneidet Podnieks heute noch.
Podnieks erzählte, daß er nach der Auftragsvergabe durch die Engländer lange nichts machen konnte, obwohl schon tausend Meter belichtet waren. Aber die geschnittene Fassung des fünfstündigen Films zeugt davon, daß er dieses Leben nicht begreifen kann, und folglich wird daraus auch kein Film, bestenfalls die Dokumentation dieses Zustands des Nicht-Begreifens, in dem wohl auch das Land schwebt.
Es ist schwer und gefährlich, politische Flme zu machen; die Situation ist höchst politisiert, alles wird als Aufruf zur Handlung verstanden, die sofort in Gewalt umzuschlagen droht. Traditionell liegt die einzige Rettung für Rußland in der Kunst und im Glauben. In diesem Film ist der einzige Held, der sein inneres Gleichgewicht findet, ein Priester. Zwar steht er in einer zerstörten Kirche, aber er hat seine innere Kirche gefunden. Nach dieser sucht der Regisseur. Er will Film nicht mehr als Stein für politische Barrikaden verstehen. So hofft er, daß Wir seine letzte Arbeit im Dokumentarfilmbereich sein wird. Und träumt von der fiktiven Parabel.
Eine fast gesetzmäßige Entwicklung. Die Parabel ist zwar „nackt“ in der Botschaft, läßt aber den Regisseur in seiner Konfusion — hinterm zerrissenen Vorhang — nicht so nackt vor die Zuschauer treten. Natürlich gibt es in Wir atemberaubende Zeitdokumente. Und Bilder.
Auch die Figur des verfolgten Künstlers avancierte mittlerweile zu einem beliebten Aufnahmeobjekt. Die Verbotenen und Verschwiegenen von einst bekamen Preise, die bis dato Hochgepriesenen sind verdrängt und werden verschwiegen. Solch kompletter Umsturz ähnelt fast einer karnevalistischen Handlung. Der alternative Narr (etwa Wyssozki), der alternative Dichter (etwa Mandelstam), der verrückte Prophet (etwa Sacharow) werden zu wichtigsten Staatsfiguren glorifiziert, von den Medien vereinnahmt und massenhaft verbreitet. Die Präsentation ändert zwangsläufig die Aussage und führt zuweilen zu deren Entleerung und makabrer Umkehrung. Das Narrenlied verkommt zur Staatshymne, intime Läuterung zum Massenbekenntnis — das alles wirkt unfreiwillig komisch. Aber der Dokumentarfilm stößt sich nicht daran. Es gibt inzwischen sieben Filme über Wyssozki, 90 Minuten über Anna Achmatowa, die Afrikanische Jagd über Nikolai Gumiljow, einen Zweiteiler über Andrej Platonow, einen abendfüllenden Film über die Avantgardisten der frühen sechziger Jahre, die ersten Opfer von Chrutschows Zorn: Das schwarze Quadrat.
Der Dokumentarfilm über verfolgte Künstler hat es zusätzlich schwer, es gibt kaum Material, nur selten bewegte Bilder. So greift man in die Archivbüchsen, und hier wird deutlich, wie gefährlich für den neuen Film die Nähe zu alten Aufnahmen ist. Der neue Dokumentarfilm demonstriert eine Verarmung seiner Sprache: abgeschnitte Köpfe, manchmal ein Zweig im Vordergrund und ein Schwenk über Bücherregale, das ist oft schon alles. Der Vergleich zu den expressiveren, alten Aufnahmen mit ihrem angestrebten opulenten Bild (Mehrfachbelichtungen, Arbeit mit Kaschs, Montage im Bild, alles war auf eine verdichtete Bildinformation gerichtet) liefert einen schlimmen Kontrast.
Ein anderes Inflationsthema sind die Gulag-Filme. Filme mit Wächtern, Henkern, Opfern. Die Thematik droht zu inflationieren. Grausamkeit der Revolution. Früher wurde sie den Weißen in die Schuhe geschoben, heute werden die Roten als Unterdrücker angeklagt. Revolutionsplatz. Es geht um den Prototypen und Helden zweier Romane von Juri Trifonow, Wiederschein des Feuers und Der Alte, einen Kosakenatamanen namens Philipp Mironow, der 1919 zum Tode verurteilt wurde — wegen Aufstands gegen die Bolschewiken. Nicht nur Stalins Terror ist hier im Visier, auch der rote Terror unter Lenin 1918 bis 1920. Zum Beipsiel der Genozid an Bauern und Kosaken.
Der Film beginnt in der Gegenwart: Die Moskauer Metro-Station „Revolutionsplatz“, müde, halb schlafende Menschen fahren in dunklen Tunneln an einer Stätte der Geschichte vorbei, die sie — in ihren täglichen Sorgen — kaum interessiert. Ein Tunnel ohne Ausgang, Dunkelheit als Metapher für das historische Bewußtsein der Nation. Schreckliche Dokumente des roten Terrors werden zitiert, Briefe von Mironow an Lenin, in denen er die Gesetzlosigkeit und Brutalität der Vertreter der Sowjetmacht beklagt. Datno wird zitiert, Mironow zum Opfer stilisiert. Das Opfer von 1918 sei reiner als das von 1937, meinen die Filmemacher. Sie montieren in ihren Film Archivaufnahmen vom Februar 1917: Ein Massenbegräbnis als Bild für alle Opfer aller Revolutionen. Auf meine Frage, wieso die Opfer des Zaren-Terrors mit denen der Übergangsregierung, des roten Terrors und der Stalinschen Säuberungen gleichgesetzt werden, antworten die Autoren, alle seien unschuldig, wenn sie Opfer sind.
Das ist das neue historische Bewußtsein. Ich befürchte nur, daß bei diesem Credo und mit solchen Hellsehern (man könnte genauso einen Film über Trotzki drehen, der in Revolutionsplatz noch als schwarzer Terrorist karikiert wird) das Volk immer im Tunnel bleibt — in einem Zug, der niemals hält und kaum ans Licht gelangt.
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