: Der unglückliche Forellenfischer
Wenn Blumenkronen verwelken: In den späten Sechzigern war Richard Brautigan eine Ikone der Flower-Power-Bewegung – vor 18 Jahren hat er sich, mürbe geworden, erschossen. Vorher aber schrieb er noch ein Buch fertig, das nun endlich auch auf Deutsch erschienen ist: „Eine unglückliche Frau“
von FRANK SCHÄFER
Ach, was ist das für ein trauriges Buch, bei aller Ironie und fröhlicher Aufgekratztheit gelegentlich; dieses letzte, das er vor seinem Selbstmord noch fertig schrieb und das dann erst 16 Jahre später in den USA erschienen ist und jetzt, noch mal zwei Jahre später, endlich ins Deutsche übertragen wurde. Obwohl man als Leser weiß, dass es abgeschmackt ist, zynisch sowieso, versucht man doch beinahe zwanghaft, „Eine unglückliche Frau“ mit seinem Suizid kurzzuschließen, überall so etwas wie Todessehnsucht herauszuhören, Vorausdeutungen aufzuspüren, die vielleicht gar keine sind.
„Was der Vollkommenheit wahrscheinlich am nächsten kommt“, schreibt er ziemlich am Anfang, „sind die riesigen, absolut leeren Löcher, die kürzlich von Astronomen im All entdeckt worden sind. – Wie soll etwas schief gehen, wenn nichts da ist?“ Zuvor ist mal wieder etwas schief gegangen, wie so oft in seinem Leben. Eine Frau, in deren Haus Brautigan für eine Weile wohnte, hat sich erhängt. Deshalb flüchtet er aus Berkeley, reist nach Alaska, weiter nach Hawaii, San Francisco, Chicago und schließlich nach Montana, wo er eine Ranch besitzt. Gelegentlich aber kommt er zurück in das Unglückshaus; und auch der während dieser Reise assoziativ, beinahe zufällig sich formende Text, der dem „Leben eines Mannes während eines Zeitraums von ein paar Monaten“ hart auf den Fernsen bleiben soll, kehrt stets zur Tragödie zurück. Aber Brautigan ruft sie nur immer wieder auf und in Erinnerung; der Tod der unglücklichen Frau ist zwar das Thema dieses Buches, aber er bleibt letztlich eine Leerstelle, vermutlich weil Brautigan zu mehr Analyse einfach nicht in der Lage ist: „Ich will nicht wissen, in welchem Zimmer sie sich aufgehängt hat. Einmal fing jemand, der es wusste, damit an, und ich sagte, ich wollte es nicht wissen. Der Jemand war so nett, nicht damit weiterzumachen. Das Thema wurde an diesem Küchentisch nicht weiter behandelt.“
Das Buch gehorcht einer strengen äußeren, beinahe formalistischen Struktur, ist aber dabei so offen und fragil wie kein anderer seiner Romane – und auch deren Architektur erinnert ja immer etwas an die Leichtbauweise in erdbebengefährdeten Regionen. Er schreibt für sein letztes Buch also ein 160-seitiges Notizbuch mit jeweils 14 Zeilen pro Seite voll, das heißt, er schreibt so lange, bis es voll ist, und er nimmt sich vor, niemals zurückzublättern oder gar das Vorangegangene zu korrigieren, weil sich die vergangene Zeit auch nicht zurückdrehen lässt. Brautigan stenografiert nur immer tapfer mit und zählt die Wörter pro Seite, um sich zu vergewissern, dass er noch schreibt, und damit wohl auch: dass er noch da ist.
Die Brautigan-typischen Wiederholungen, die ironischen Redundanzen, das häufige Neuansetzen und Neuformulieren desselben Sachverhalts scheint hier in noch stärkerem Maße existenziell verantwortet zu sein. Und je näher er dem Ende des Notizbuchs kommt und sieht, wie ihm das Leben zwischen den Fingern durchrinnt, umso trauriger wird er: „Ich kann alle die Dinge, die ich hier weggelassen habe, nicht vergessen, bin fast besessen von ihnen. Sie hätten mindestens genauso viel Zeit verdient, und wer wird sich jetzt ihrer Sache annehmen, wo ich mit jedem Strich meines Kugelschreibers den Platz hier verbrauche …“
Noch einmal, bevor er mehr und mehr das Schreiben dran- und sich dem Suff hingibt, hat er sich ganz eingelassen auf das Leben. Und doch auch wieder nicht, denn seine Literatur verklärt sie ja, diese beleidigende Unzumutbarkeit namens Realität. In allen seinen Büchern schreibt er dagegen an, dehnt auch ihre Grenzen immer wieder surrealistisch aus, und wenn er sie schon nicht vergessen machen kann, dann sucht er der Trost- und Sinnlosigkeit der Welt doch wenigstens ein Anteil nehmendes Lächeln, ein empathisches Kopfschütteln, eben ein bisschen Mitgefühl abzutrotzen.
Das allerdings gelingt ihm – immer. Schon mit dem ersten Roman „Ein konföderierter General aus Big Sur“ (1964), der bereits wohlwollend aufgenommen wurde von der amerikanischen Kritik, vor allem aber mit dem aberwitzigen „Forellenfischen in Amerika“ (1967), das sich gerechterweise millionenfach verkaufte, ihn zu einem reichen Mann und zum bekanntesten Schriftsteller der USA machte. Es kam aber auch zur rechten Zeit: 1967, im Summer of Love, haben Brautigans erzählerischer Rousseauismus beziehungsweise Thoreauismus plötzlich Konjunktur: seine Aufmerksamkeit für das Einfache, Natürliche, das Profane, scheinbar, aber eben immer nur scheinbar Unwesentliche, seine kauzig-komische Wirklichkeitsvergessenheit und nicht zuletzt seine Fähigkeit, die Dinge noch einmal ganz „ursprünglich und direkt“ zu sehen, „so als schaute er sie zum ersten Mal an“ (Keith Abbott).
Brautigans Stil korrespondiert aufs Schönste mit der Flower-Power-Ideologie, ist gewissermaßen ihre literarische Entsprechung, und so avanciert der Einzelgänger, der die Beat-Poeten kennt, aber nicht zu ihnen gehört, und der mit den Hippies eigentlich auch nichts anfangen kann (na, das mit der freien Liebe wird ihm schon gefallen haben!), innerhalb kürzester Zeit zur Haight-Ashbury-Ikone und zum Chronisten der Bewegung.
Sie haben ihm die Blumenkrone aufgesetzt – und da ist sie dann verwelkt. Aus Flower Power wurde bald eine nostalgische Reminiszenz, die zwar immer noch den Blick verklärte, aber allen auch ein bisschen peinlich war. Das Commodore-Handbuch ersetzte Brautigans Geschichten und Gedichte. Einer, der so identifiziert wird mit einer Zeit, geht mit ihr unter. Und Brautigan leidet unter dieser Zurückweisung, umso mehr als sich seine frühe Schüchternheit und Sensibilität mit dem Erfolg in eine maßlose Eitelkeit verwandelt hat. Unter Hemingway als literarischer Vergleichsgröße macht er’s schon längst nicht mehr. Und dass er wie dieser den Literaturnobelpreis verliehen bekommen muss, steht auch schon mal fest.
Er säuft wie ein Loch, dient sich den in seiner Nähe wohnenden Hollywoodgrößen an (Peter Fonda etwa), ballert – auch darin ein amerikanischer Archetyp – mit der Flinte in der Gegend herum, verprellt immer mehr Freunde, nervt die noch verbliebenen mit nächtlichen Anrufen, ergibt sich einer ziemlich unansehnlichen Egomanie. Dass er irgendwann nicht mehr zurückruft, fällt zunächst keinem weiter auf. Fünf Wochen liegt er bereits tot in seinem Haus in Bolinas, Kalifornien, bevor man ihn schließlich findet, angewest mit weggeschossenem Kopf. Eine 44er Magnum daneben. Stutzig wurde man erst, als nicht mal mehr der Anrufbeantworter ranging, weil die Batterien leer waren. Ein unglücklicher Mann.
Wer in dieses Gesicht mit den schwermütig lächelnden Augen und dem traurigen Seehundschnauzer oder auch nur in eines seiner Bücher blickt, der wird wohl vor allem ein großes Harmonie- und Liebesbedürfnis darin lesen. Denn was man entbehrt hat, davon kann man später nicht genug kriegen. Mit neun Jahren lässt ihn seine Mutter mit der noch jüngeren Schwester in einem schäbigen Hotel in Great Falls, Montana, sitzen; ein Weile füttert sie der Hotelkoch durch, bis sie doch noch zurückkommt, die beiden wieder zu sich nimmt. Irgendwas hat er da verloren in diesem schäbigen Hotelzimmer. Wenn das nicht schon vorher längst weg war. Mit sechs oder sieben Jahren trifft Brautigan einen fremden Mann auf der Straße, der seine Börse zückt und ihm ein paar Dollar in die Hand drückt: „Das ist alles, was du je von mir kriegen wirst.“ Dad!
„Jede neue Veröffentlichung“, weiß Brautigans Schriftstellerfreund und Biograf Keith Abbott zu berichten, „wurde an einem Ehrenplatz vor seinen alten Einmachgläsern und den abgenutzten Andenken an seine trostlose Kindheit im Nordwesten aufgebaut – fast als wolle er den Geistern, vor denen er geflohen war, ein Opfer bringen.“ Vielleicht ist seine Literatur nur der Versuch, diese Erinnerungen an seine Kindheit wegzuschreiben, sie vergessen zu machen, und als das nicht mehr ging, ging eben alles andere auch nicht mehr.
„Ich glaube, das Einzige, was ich kann, ist schreiben“, soll er mal gesagt haben. „Und wenn das so ist, dann werde ich eben nur noch schreiben.“ Brautigan meint das ernst und fällt damit in ein merkwürdiges, unerklärbares, aber auch nicht seltenes Traditionsmuster. Er, der so unter seinen Eltern gelitten hat, wiederholt genau ihre Fehler. Er vernachlässigt seine Tochter Ianthe, und auch sie zerbricht beinahe daran, unternimmt nach seinem Tod einen Selbstmordversuch, beginnt eine Therapie und schreibt sich ebenfalls frei mit einem just auf Deutsch erscheinenden Erinnerungsbuch, „Den Tod holen – Erinnerungen einer Tochter“, über den von Ferne geliebten Vater.
Brautigan hat sie der Literatur geopfert. Und er war sich dessen sehr wohl bewusst, das macht vor allem sein letztes Buch ganz evident. Im Motto zitiert er da die Euripides-Tragödie „Iphigenie in Aulis“, in der Agamemnon seine Tochter zum Schein der Göttin Artemis opfert, damit sie ihm günstige Winde schickt und er Aulis verlassen kann, um Troja anzugreifen. Agamemnon tötet sie nicht wirklich, aber er schickt sie fort. Und sie fügt sich in ihr Schicksal, wie sich auch Ianthe fügen musste: „Komm du / Von Troja uns recht bald und siegreich wieder!“
Am Schluss des Buches nimmt Brautigan den Faden dann noch einmal auf und erzählt unmittelbar von ihrem problematischen Verhältnis. Sie sind sich fremd, sie sprechen nicht mehr miteinander, haben sich nichts zu sagen. Ein Anruf von ihr endet verstörend für beide. Dann aber kommt das Ende: „Auf dieser Seite sind noch zehn Schreibzeilen frei, und ich habe mir vorgenommen, die letzte Zeile nicht zu benutzen. Ich spare sie auf für das Leben von jemand anderem. Er wird sie hoffentlich besser nutzen als ich.“
Und was steht da, in der letzten Zeile?: „Iphigenie, dein Papa ist wieder aus Troja zurück!“ Eine ironische Reprise des Mottos. Einmal mehr sollte die Literatur kompensieren, was er im Leben schuldig blieb. Aber dieser schiefe Optimismus, dieses platt Illusionistische, fast Karikaturhafte zeigt auch, dass er selbst nicht mehr so recht daran glauben mochte.
Richard Brautigan: „Eine unglückliche Frau“. Aus dem Amerikanischen von Günter Ohnemus. Maro Verlag, Augsburg 2002, 115 Seiten, 14,90 €ĽIanthe Brautigan: „Den Tod holen – Erinnerungen einer Tochter“. Aus dem Amerikanischen von Robert Nesta. Kartaus Verlag, Regensburg 2002, 220 Seiten, 17,50 €
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