piwik no script img

■ Der russische Krieg in Tschetschenien ist mehr als eine hysterische Reaktion auf islamistische Gewalt. Es geht auch um handfeste materielle Interessen Moskaus in der RegionDie Gewaltspirale

Je mehr Guerilla und Volk verschwimmen, umso brutaler wird der Krieg

An den Schlagbäumen stauen sich die Flüchtlinge, in der Ferne hört man Artillerie, die Medien berichten von Erfolgen gegen die Banditen. Aber was wirklich in Tschetschenien geschieht, lässt sich außerhalb des Landes nur befürchten. Vielleicht stimmt ja die amtliche Version: Die „Banditen“ werden bekämpft, die Bevölkerung wird geschont. Optimistische Vermutungen sind möglich, aber unrealistisch.

In einigen Punkten hat die russische Seite Recht. Vor dem russischen Angriff war Tschetschenien als Staat kaum funktionsfähig. Mit ihrem Einfall nach Dagestan demonstrieren die islamistischen Gruppen, dass sie notfalls den gesamten Kaukasus in ein Blutbad verwandeln werden. Gewiss können diese Gruppen auch auf die Hilfe international agierender Terroristen rechnen. Wie sollte schließlich Moskau mit einer Regierung verhandeln, die offenkundig ohnmächtig war?

Mit welchen Methoden aber die russische Armee Ordnung schaffen und ihrem Herrschaftsanspruch Geltung verschaffen wollte, sah man schon in Dagestan. Sie feuerte aus allen Rohren und ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Wo die Russen vorher ungeliebt waren, aber – verglichen mit den religiösen Fanatikern – als kleineres Übel hätten gelten können, sind sie nun nur noch verhasst.

In Tschetschenien wird diese Taktik fortgeführt: Die Armee verlässt sich auf ihre überlegene Feuerkraft; die Soldaten dringen erst vor, nachdem die Gegenseite stillgebombt ist. Dies ist die russische Strategie: Erst wird die Bevölkerung vertrieben, dann werden die verbliebenen Bewaffneten mit überlegener Vernichtungstechnik „liquidiert“. Eine gesamte Bevölkerung kann man aber nur in die Flucht jagen, wenn man ihr Angst und Schrecken einjagt; und das erreicht man durch Terror.

Die amtliche russische Behauptung, die Bevölkerung werde geschont, erstaunt noch in anderer Hinsicht. Nicht einmal mit der eigenen Bevölkerung geht man, so die russische Tradition, sonderlich behutsam um. Bei summarischen Aktionen gegen die Kaukasier aber kann man in Russland allgemeinen Applaus erwarten. Der pauschale Verdacht der Wirtschaftskriminalität, des Rauschgifthandels oder der Bandenbildung war in den 90er-Jahren auch von Regierungsseite genährt worden; längst waren die Kaukasier in Russland das Objekt bürokratischer Schikanen geworden.

Die antikaukasischen Stimmungen erreichten einen Höhepunkt mit den terroristischen Sprengungen großer Wohnblöcke im Herbst. Weder der Presse noch dem Publikum musste bewiesen werden, dass die Täter muslimische Kaukasier waren. Der Krieg verschaffte daher Politikern wie Putin Popularität, und die Machtverhältnisse, die ins Rutschen geraten waren, stabilisierten sich wieder. Putins Aussichten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen sind damit enorm gestiegen.

Überdies gibt es handfeste Interessen: die Sicherung der Pipeline, die das Kaspische Meer mit dem Mittelmeer verbindet, das Erdöl im Boden Tschetscheniens, die Verhinderung einer Destabilisierung der gesamten Region. Auch wenn der militärische Angriff unmoralisch sein sollte, irrational ist er nicht.

Diese Beobachtungen könnten in eine glatte Verschwörungstheorie hineinführen, die wie üblich plausible und unplausible Aussagen miteinander mischt. Sollte etwa der FSB, die Nachfolgeorganisation des KGB, die Wohnblocks in die Luft gesprengt haben? Aber es gibt auch Gegengründe. Sicherlich ist der FSB skrupellos. Aber wäre er auch töricht genug? Denn mittelfristig ließe sich ein solches Verbrechen wahrscheinlich doch nicht vertuschen. Umgekehrt sollte man bei den gewalttätigen muslimischen Gruppen nicht viel Menschenfreundlichkeit vermuten. Aber das muss wiederum nicht heißen, dass sie diese Terrorakte begangen haben.

Eine plausiblere Erklärung können die Mechanismen des Guerilla- oder Partisanenkrieges liefern, wenn man keine der beiden Seiten idealisiert. Guerillaarmeen kämpfen typischerweise gegen einen militärisch haushoch überlegenen Gegner. Eine Chance haben sie in dieser Konstallation nur, wenn sie sich in der Bevölkerung bewegen können wie der berühmte Fisch im Wasser.

Deshalb schüchtern sie in der Regel auch die eigene Bevölkerung ein: Gegner werden als Verräter behandelt; die Verurteilungen sind entsprechend rigide. Nach dem Sieg wird diese unheilvolle Praxis üblicherweise beibehalten. Befreite Gebiete sind in der Regel keine, in denen die Bevölkerung in Freiheit lebt.

Erfolgreiche Guerillaarmeen können darüber hinaus auf die ungewollte Hilfe durch ihre Gegner rechnen. Je weniger die regulären Streitkräfte die Guerilleros von der Bevölkerung unterscheiden können, desto stärker bekämpfen sie die Bevölkerung selbst. Diese befindet sich spätestens dann auf Seiten der Guerillaarmee. Das wiederum verstärkt die Unfähigkeit der regulären Armee, die ihren wirklichen Feind immer weniger trennscharf ausfindig machen kann.

Ist dieser Mechanismus einmal in Gang gebracht, kann er kaum noch angehalten werden. Ein Lehrbuchbeispiel dafür ist das Vorgehen der türkischen Armee in den kurdischen Siedlungsgebieten; die russische Führung ist nicht klüger.

Natürlich kann eine Guerillaorganisation mit diesem Mechanismus kalkulieren. Denn wenn sie die massenhaften Repressionen herbeiführt, wird sie mittelfristig stärker. Am Ende kann die reguläre Armee nur noch gewinnen, wenn sie die Bevölkerung insgesamt vertreibt, umbringt oder in solche Not bringt, dass sie keiner Guerrilla mehr helfen kann.

In der modernen Welt sind derartige Konflikte ohne die beobachtenden Medien kaum noch denkbar. In ihrem Lichte hat die reguläre Armee entweder gegen „Terroristen“ Recht oder gegen „Freiheitskämpfer“ Unrecht. Jede Armee verliert aber ihre Legitimation, wenn öffentlich berichtet wird, dass sie die Bevölkerung angreift.

So geschah es der amerikanischen Armee im Vietnamkrieg. Auch wenn sie noch mehr militärtechnische Reserven gehabt hätte – der Krieg untergrub längst die Autorität der Regierung daheim. Entscheidenden Anteil an dieser Delegitimierung hatten Presse und Fernsehen. Das war den Serben im Kosovo klar, es ist den Russen in Tschetschenien klar.

Der Kosovokrieg ist in den öffentlichen Stellungnahmen russischer Militärs immer wieder präsent. Die russischen Medien und die russische Bevölkerung hatten die Angriffe der Nato durchgängig abgelehnt – teils aus slawisch-orthodoxen Sympathien, teils weil sie das hilflose serbische Volk einem gnadenlosen Völkermord ausgeliefert sahen. Die Regierung hatte vielleicht noch einen Hintergedanken: Ein souveräner Staat soll auf seinem Territorium machen dürfen, was er will.

Dieser Krieg erinnert an das, was die Wehrmacht in Weißrussland tat

Umso bemerkenswerter war, dass die russische Armee nun ausdrücklich nachmacht, was sie als Vorgehen der Nato getadelt hatte: die systematische Bombardierung von Städten und Dörfern. Das Vorbild Kosovokrieg kann jedoch auch in die Irre führen. Wäre die Nato tatsächlich so vorgegangen, wie es die russischen Medien unterstellten, sähen Belgrad oder Novi Sad heute aus wie Warschau 1945. Wahrscheinlich aber ist, dass Grosny und Gudermes so aussehen.

Man kann den russischen Militärs vorwerfen, dass sie nichts aus den Niederlagen in Afghanistan und im ersten Tschetschenienkrieg gelernt hätten. Aber dies ist müßig – der Guerillamechanismus ist ohnehin stärker. Und die Bedeutung der öffentlichen Berichterstattung haben sie erkannt: Tschetschenien ist abgeriegelt, die Journalisten schauen in den Nebel.

Die russische Armee könnte gewinnen. Aber ihre Fixierung auf einen Sieg, der die erlittenen Niederlagen wettmacht, der das Land symbolisch wieder stärkt und an den Triumph im Großen Vaterländischen Krieg gegen Deutschland anknüpft, hat eine bittere Folge: Denn die russische Kriegführung entspricht eben weniger jener der Nato-Staaten gegen Serbien als jener der deutschen Wehrmacht in den Partisanenkämpfen in der Ukraine, in Weißrussland und in Polen.

Ruhm lässt sich so nicht gewinnen. Und die Kosten sind auf jeden Fall verheerend.

Erhard Stölting

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen