Der rote Faden: Und morgen sind wir richtig entsetzt

Angesichts von Pädophiliedebatte und weggenommenen Roma-Kindern lohnt es sich zu fragen: Was wird man eigentlich in 30 Jahren denken?

Was heute noch normal ist, kann morgen schon empören. Bild: sober eel kirk / photocase.com

Das etwas simple religiöse Bewusstsein imaginiert sich den Erhabenen gerne als eine Art Überwachungsgott: Gott sieht alles. So gesehen ist die NSA eine Art säkularisierter Allmächtiger. Sie sieht auch alles und hat gegenüber Gott den Vorteil, dass ihre Existenz ziemlich unstrittig ist.

Wenn wir schon bei der Säkularisierung sind: In der Welt der Philosophiehistorie ist gern vom gravierenden Bruch die Rede, den der Übergang vom griechischen zum judäochristlichen Weltbild markierte. War die hellenische Mentalität noch geprägt von einem statischen Denken – Stichwort ewige Wiederkehr des Gleichen –, brachte der jüdische Messianismus ein neues Zeitempfinden: Morgen wird es anders sein als heute, denn morgen kommt der Messias. Oder sonst irgendein Paradies. Prinzipiell futurozentrisch, nennen das die Fachleute, und der moderne Fortschrittsglaube war nur eine säkularisierte Schwundform davon.

Nun ist der Fortschrittsglaube in einer Welt längst arg zerzaust, in der Eltern nicht mehr so sicher sind, ob ihre Kinder es besser haben werden als sie selbst, und der kulturpessimistische Geister eine berechtigte Skepsis gegen den fragwürdigen Fortschritt von der Steinschleuder zur Megatonnenbombe eingepflanzt haben. Aber auch in dieser Welt gibt es noch Restbestände des Fortschrittsglaubens.

Sie kommen in der Haltung: Wie dumm konnten wir früher nur sein?, zum Ausdruck. Hier klingt die Vorstellung an, dass wir heute gescheiter sind als gestern und die Pathologien von früher längst hinter uns gelassen haben. Wie brutal und autoritär waren wir früher! Haben Kinder in die Obhut staatlicher Erziehungsanstalten gegeben, wo sie geprügelt und drangsaliert wurden! Würden wir nie wieder tun!

Wie dumm konnte man sein?

Auch die notorische „Pädophiliedebatte“ fällt in diese Kategorie: Vernünftige Geister dachten sich, man müsse die Sexualität des Kindes befreien, nicht zuletzt deswegen, weil wir schon mal bei der Befreiung der Sexualität im Allgemeinen waren, und warum nicht gleich die Sexualität Halbwüchsiger mit Erwachsenen? Wie dumm konnte man nur sein? Nein, so etwas wird uns nicht mehr passieren!

Aber Zweifel sind angebracht und damit der Ratschlag: Geben Sie acht, was Sie heute twittern, es könnte in 20 Jahren ihre Karriere ruinieren.

Was heute als völlig mainstreamig erscheint, kann in 20 Jahren ein Skandal sein, und dann sind nur jene fein raus, die heute keine schriftlichen Spuren hinterlassen.

Ein schönes oder, besser, erschreckendes Beispiel dafür ist die gegenwärtige europäische Hysterie wegen der Romakinder. Erst wird einer griechischen Romafamilie ihr Kind weggenommen, weil es blond ist und sich herausstellt, dass es nicht ihr leibliches Kind ist. Sofort raunt der Boulevard: Die haben es bestimmt gestohlen – womöglich ganz ruchlose Organhändler! Dann stellt sich heraus, sie haben das Kind nicht gestohlen, sondern aufgenommen, als wäre es ihr eigenes, weil die Ursprungsfamilie für die Kleine nicht sorgen konnte. Was passiert? Der bulgarischen Ursprungsfamilie werden auch noch ihre anderen Kinder weggenommen.

Fast alle machen mit

Währenddessen werden auch in Irland Roma ihre Kinder weggenommen, weil sie blond sind, und erst zurückgegeben, als sich herausstellt, dass sie wirklich die leiblichen Kinder sind. All das passiert hier und heute bei uns in EU-Europa, und fast alle machen mit: Fernsehmagazinmacher ziehen die Story hoch, normale Bürger trauen den Roma das natürlich zu, dass sie Kinder stehlen, die Kollegen vom Drecksboulevard von der anderen Straßenseite schreiben ihre suggestiven Schlagzeilen („Blondes Mädchen aus Roma-Camp befreit!“), und aus den Postingforen quillt die Niedertracht.

Gut möglich, dass wir uns in 20 Jahren, wenn wir die Storys derer hören, die heute auf diese Weise traumatisiert werden, fragen werden: Wie war das möglich? Welch Irrsinn! Was war das denn für ein verrücktes Zeitalter, in dem Kinder aus ihren Familien gerissen wurden – aus ostentativ rassistischen Motiven?

Wir sehen, es ist eine Mischung. Einerseits ewige Wiederkehr des Gleichen. Andererseits brütet jedes Jahrzehnt seinen eigenen Wahnsinn aus.

Es kann nicht schaden, sich zurückzulehnen und einmal die Frage zu stellen: Was wird man eigentlich in 30 Jahren darüber denken?

Natürlich ist das immer nur ein Gedankenexperiment. Nicht nur, weil wir nicht wissen können, was man überübermorgen denken wird, sondern auch, weil wir stets Gefangene unserer eigenen falschen Moral sind. Denn an all diesen Beispielen wird deutlich: Es geht nicht bloß um unmoralisches Verhalten, sondern um Verhalten, dass uns moralisch dünkt und gerade deshalb blind ist für die Amoral.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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