Der italienische Fotograf Raffaele Petralla ist in die chinesische Stadt Yiwu gefahren, wo all die Dinge der Welt produziert werden, die eigentlich niemand braucht: Glänzend, klingelnd, glitzernd, bunt
Fotos Raffaele Petralla Text Waltraud Schwab
Da, diese Leere. Diese entseelte Entfesselung von Begehren nach etwas, für das kein Mangel erkennbar ist, der den Wunsch nach dem Ding bedeutsam macht. Das klingt kompliziert und ist es doch nicht. Wer nach China reist, nach Yiwu, versteht es sofort.
Es können gar nicht genug Wörter aufgesagt werden für die Dinge, nach denen die Hand greift, das Glitzernde, Bunte, Leuchtende, Klingelnde, Glänzende, um zu verdeutlichen, was in Yiwu geschieht. In der Stadt, 350 Kilometer westlich von Schanghai, wird das hergestellt, dessen Wert nicht über das Objekt hinausreicht: Ramsch, Kitsch, Firlefanz, Tand. Singende Kerzen, Duft versprühende Kunstblumen, betörende Tüllröckchen, schrille Sandkastenförmchen, grasgrüne Plastikchristbäume, sprechende Puppen, pastellfarbene Cocktailspieße, rote Nikoläuse, goldene Engel. 80 Prozent des Weihnachtsschmucks weltweit, 60 Prozent des Spielzeugs weltweit, werden in der Stadt produziert – das sind Superlative, Alleinstellungsmerkmale des Ortes.
Eineinhalb Millionen Menschen wohnen in Yiwu, es ist eine kleine Stadt im chinesischen Städte-Ranking. Was aber die Herstellung von sogenannten Kleinartikeln angeht, ist Yiwu die größte. 50.000 Geschäfte, untergebracht in stadiongroßen Marktzentren, in denen das immer Gleiche hergestellt und verkauft wird, 300.000 Artikel, eine Stadt in der Stadt. Es gibt Läden, in denen es nur Schnuller gibt oder Christbaumkugeln, Hexenmasken oder Geldbeutel. Man bahnt sich den Weg durch BH-Berge und Gürtelhügel, durch Schüsselkrater und goldene Plastiktrompetengeysire. Täglich verlassen tausend Container mit Plunder die Stadt. 8.000 Einkäufer sind ständig dort und suchen das noch nicht da Gewesene, das nie Gesehene, das einmalig Seiende, das millionenfach reproduziert, sein Noch-nie erst in jenem Moment einlöst, in dem jemand ein Einzelnes davon kauft.
Denn hier geht es um Dinge, die meist an und für sich wertlos sind, die in einer fast magisch anmutenden Transformation, von den Gesetzen des internationalen Handel diktiert, jedoch einen Wert bekommen. Wertloses Nichts wird dabei wertvoll. Das ist die Alchemie des Kapitalismus – ausgerechnet in China wird sie angewandt.
Der für seine Sozialreportagen vielfach preisgekrönte italienische Fotograf Raffaele Petralla, ist nach Yiwu gefahren, hat sich der Penetranz der knalligen Farben ausgesetzt und die einzigartige Poesie der Künstlichkeit, die hier Teil der Wirklichkeit ist, in seinen Fotos festgehalten. Er zeigt so, was ist.
Und, hat die Geschichte ein Ende? Ja, in der Fantasie. „Was ist Schönheit“, wird ein alter Mann in Yiwu, dieser nach Plastik riechenden neuen Welt, gefragt. Er bückt sich, pflückt ein Maßliebchen, zeigt es. Aber, fragen Sie, gibt es denn echte Maßliebchen in China?
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