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Archiv-Artikel

Der einzige Zeitgenosse

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Der Aufstand des Volkes galt einst als etwas Schönes. Dabei gibt es nichts, vor dem man mehr Angst haben sollte

Was ist ein Zeitgenosse? Natürlich jemand, der zur selben Zeit lebt wie wir. Oder ist das ein Irrtum? Wer alten Kommunisten aus der DDR zuhört, riskiert einen Zeitschock: Die denken tatsächlich noch immer in Weltformeln, die man schon beinahe vergessen hatte. Oder die Muslime. Auch wenn sie direkt neben uns wohnen – die Gegenwart der meisten ist eine ganz andere. Sie leben unter einer religiösen Weltglocke. Über unseren Köpfen fehlt diese Glocke, auch über unseren katholischen und evangelischen Mitköpfen. Man ist religiös – in der Karwoche darf man das ruhig mal sagen – in einer sehr nachreligiösen Gesellschaft.

Merkwürdig ist das schon. Wir teilen denselben Raum. Aber wir leben in allen möglichen Zeiten. Und woher wissen wir dann, wie spät es ist? Natürlich gibt es in unserer Spezialistengesellschaft auch Spezialisten für Zeitansagen. Journalisten zum Beispiel. Aber welche Uhren haben sie? Und woran erkennt man, ob sie noch richtig ticken oder längst stehen geblieben sind?

Außerdem existiert ein Trägheitsmoment in unserer aller Zeitwahrnehmung. Jede Vergangenheit ragt in die Gegenwart, weshalb es völlig normal ist, sich noch im Gestern zu befinden, wenn das Morgen längst angefangen hat. Darum sind Zeitgenossen nicht du und ich und jedermann, sondern sie bilden eine sehr seltene Spezies. Sie müssen Zeichenleser sein. Um Zeichen richtig lesen zu können, muss man vergessen können, was man schon weiß.

Im Augenblick lohnt es, Berliner Theaterzeichen zu lesen. Was da plötzlich auf der Bühne, nein, auf den Hauptstadtbühnen steht, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Ist es die Rückkehr des politischen Theaters? Peymann gräbt Brecht aus. Nun gut, das gehört zu seinem Berufsbild. Schließlich hat er das Brecht-Theater übernommen. Reine Nostalgie, sagen die Kritiker. Aber das eigentliche Ereignis ist das Publikum. Als ob die Leute zum ersten Mal hören, was sie längst schon kennen.

Nicht weit weg von Peymanns „Berliner Ensemble“ hat das Gorki Theater gerade ein „Bankenstück“ auf die Bühne gestellt. Bei den Bankenstücken scheint es sich um eine völlig neuartige Gattung der Theatergeschichte zu handeln. Die Parallelaktion von Hochhuth findet gerade in Brandenburg statt und befasst sich neben Banken auch noch mit Unternehmensberatungen. Aber an eine richtige Revolution traut sich nicht einmal Hochhuth. Volker Hesse schon. Das ist der Intendant des Gorki Theaters. Er sieht völlig harmlos aus und lebte auch lange in der Schweiz. Die Schweizer sind vielleicht das revolutionsfernste Volk überhaupt. Und nun das. Neben der Revolution – gibt es eigentlich etwas Musealeres als Revolutionen? – kommt im „Bankenstück“ auch eine Regierung vor, die ins Exil fliehen muss, und eine Kommune, die die Macht übernimmt. Gibt es eigentlich etwas Vorgestrigeres als eine Kommune? Kennt man aus der Geschichte. Oder aus dem Ausland, wenn es sehr weit weg ist. Aber hier geht es nicht um eine Vergangenheit, sondern um eine Art Gegenwartszukunft. Und die Kommune ist keine Dritte-Welt-Bananen-Kommune, sondern die Berliner Kommune.

Ich gebe ja zu, das alles vorher für reinen Humbug gehalten zu haben. So etwas gelingt nie. So etwas kann gar nicht gelingen.

Premiere war im März, genau wie 1848. Die Märzrevolution von 1848 hat Marianne Birthler gerade kommentiert und sie zur „Grundlage für die Aufstände 1953 und die Oktoberrevolution 1989“ in der DDR erklärt. Es ist immer sehr unterhaltsam, wenn Marianne Birthler über die Historie spricht. Warum soll eine Katechetin nicht auch ein bisschen Geschichte treiben dürfen? Wahrscheinlich hat sie schon als Kind im DDR-Geschichtsunterricht immer widerständlerisch weggehört, weshalb sie nun vom „Vormärz“ (Richtung Marx! Richtung Engels!) nichts weiß. 1848 war vor allem ihre Revolution. Die Katechetinnen-Vernunft ist heute allgegenwärtig: Wenn erst alle Länder Demokratie lernen, wird die Welt in Frieden leben.

Eine bedenklich aufklärerische Normalvernunft herrscht in diesem Lande. Eigentlich ist gegen die aufklärerische Vernunft gar nichts zu sagen, nur rechnet sie nie mit der Geschichte. Und nie mit der Gegenaufklärung. Und nie mit dem Eigensinn der Dinge. Und nie mit den Elementen in der Demokratie, die die Demokratie gefährden. Nur Arglose denken dabei an Jungnazis.

Im Gorki Theater wäre Marianne Birthler gewiss in Ohnmacht gefallen. Autor Lutz Hübner und der inszenierende Intendant Volker Hesse rechnen mit der Geschichte. Und mit dem Eigensinn der Dinge. Und mit den Elementen in der Demokratie, die die Demokratie gefährden. Es ist schon passiert: Die Revolutionsgarden, Berliner wie du und ich, beseitigen eine freiheitlich- demokratische Ordnung. Nur sieht man das gar nicht so direkt auf der Bühne. Attribute wie „freiheitlich-demokratisch“ sind auf dem Theater grundsätzlich unsichtbar. Sichtbar ist ein Pulk gefesselter Banker in schwarzen Anzügen im weißen Bannkreis. Und das ist eigentlich noch viel schlimmer: denn die Theater-Suggestion, dass die Banker mit vollendeter Ackermann-Physiognomie doch die eigentliche Wahrheit über die freiheitlich-demokratische Ordnung sind – sie wirkt. Man weiß es besser, aber wie lange hilft das?

Eine bedenklich aufklärerische Normalvernunft herrscht in diesem Lande

Natürlich war etwas zu lernen aus der DDR. Vor allem, dass das (bürgerliche) Recht doch mehr ist als das Recht der Herrschenden, wie die Kommunisten glaubten. Aber wer das nicht noch in der DDR selbst begriffen hatte, für den war es nachher unter dem neuen ungekannten Lebensdruck wohl zu spät. Und auch in der alten Bundesrepublik hat die rationale Einsicht noch eine andere tragende emotionale Seite: Demokratie scheint ein anderer Name für den Wohlstand der größtmöglichen Zahl zu sein. Wohlfahrt der größtmöglichen Zahl – das war auch die Definition des Sozialismus. Nur dass die Sozialisten die Rechtsform als bloße Maske von Herrschaft gering schätzten und nicht sahen, dass sie Zivilität erst möglich macht. Und das ist das Atemberaubende an Lutz Hübners „Bankenstück“.

Dieses Berlin-Revolutions- Drama weiß auch das. Der Aufstand des Volkes galt einst als etwas Schönes. Dabei gibt es nichts, vor dem man mehr Angst haben sollte. Hübner-Hesse zeigen es. Sie zeigen aber auch die andere Wurzel der Zivilität. Es sind ja nicht immer Bankgesellschaften, die Städte ins Verderben stürzen. Vielleicht sollten sich die Spitzenmanager der Berliner Verkehrsbetriebe dieses Berlin-Stück einmal ansehen. Das sind die, die mehr verdienen als der Regierende Bürgermeister, vielleicht, weil sie sich wie Mannesmann und Deutsche Bank zusammen vorkommen. Dabei sind sie nur S-Bahn-Lenker mit Senatszuschuss. Kürzlich haben die Spitzenmanager das Sozialticket gestrichen. Jetzt schaffen sie den traditionalen Berliner Einfachfahrschein ab, gültig zwei Stunden. Damit ihn keiner mehr die Restzeit denen ohne Sozialticket schenken kann.

Kinderstücke soll Lutz Hübner bisher geschrieben haben. Wenn er angeben würde, sein bisheriges Dasein mit dem Studium der Revolutionsdialektik verbracht zu haben – nach der Gironde kommen immer die Robespierres und dann der Thermidor, auch im „Bankenstück“ –, man würde ihm auch das glauben. Kann sein, der Kinderstücke-Autor Lutz Hübner ist der einzige Zeitgenosse weit und breit.

Fotohinweis: Kerstin Decker lebt als freie Publizistin in Berlin