piwik no script img

■ Der deutsche Verband für Freikörperkultur wird an diesem Wochenende 50 Jahre alt. Ein halbes Jahrhundert Bekenntnis zu Lust und Begierde? Mitnichten. Die Nudisten versuchen die Sünde zu bannen und Nacktheit zu entsexualisieren  Von Jan FeddersenNackt und gesund

uletzt kam die Szene vor knapp drei Jahren ins Gerede. Da erkannte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in zwei Zeitschriften Fotos, die sexuell erregend wirken könnten. Sie setzten aber nicht den Stern, den Playboy oder andere gewöhnliche Illustrierte auf den Index, sondern zwei Magazine, die sich an Freunde der Freikörperkultur wenden – also an Menschen, die einen Großteil ihrer Freizeit in FKK-Vereinen, die Ferien in Nudistencamps, vor allem in Kroatien, Frankreich oder in Deutschland, verbringen.

Der Eifer der jugendschützenden Lektoren war, wenn überhaupt, den meisten Zeitungen nur eine kurze Nachricht wert. Öffentlich präsentierte Nacktheit war zuletzt in den Sechzigerjahren ein Skandal. Die kurze Filmszene aus der Nachkriegszeit, mit der Hildegard Knef berühmt wurde, nimmt sich heute nur noch betulich aus. Man sieht ein wenig von ihrer unbedeckten Brust – den Rest muss man ahnen, und das taten die meisten auch wohl. Der Fall aus den Fünfzigerjahren bewies, auch aus heutiger Sicht, nur, dass das Sexuelle, das Begehren, nicht zwangsläufig etwas mit Nacktheit zu tun hat. Sondern mit Geheimnis und Andeutung, mit Verschweigen und Verstecken, mit Schuld und Scham, Gier und Lust. Und genau mit dieser seltsamen Dialektik von gefährlicher Attraktion und ernüchternder Abstoßung hat der organisierte Nudismus nichts zu tun. Wolfgang Weinreich, Vizepräsident des nun 50 Jahre alt gewordenen Deutschen Verbands für Freikörperkultur, gibt unumwunden zu: „Seine Sexualität lebt der FKK-Freund wie jeder andere Mensch zu Hause in seinem Intimbereich.“ Wer einmal einen Nachmittag in einer Freikörperbadeanstalt verbracht hat, wird das nur bestätigen können. Menschen laufen mit Sonnenhüten herum, bei Regen mit Schirmen, tragen Kühlboxen mit sich herum und Thermoskannen mit heißem Kaffee. Der einzige und entscheidende Unterschied zum Besuch einer gewöhnlichen Schwimmhalle ist der, dass niemand offen auf die Geschlechtsteile anderer guckt.

Und das war auch genau der Anspruch und das Ziel, den die ersten Nudisten Ende des vorigen Jahrhunderts hatten. Die „Nacktkultur“ war Teil der Lebensreformbewegung, die, so DFK-Vize Weinreich, eine „Gegenbewegung“ sein sollte „zur Verstädterung, gegen das Hausen in Mietskasernen und gegen die gänzliche Vereinnahmung der Menschen durch die Industrialisierung“. Dahinter verbarg sich eine Weltanschauung, nach der die Menschen eigentlich dazu berufen seien, wieder zurück zur Natur zu finden, und zu Recht empfand man sich als eine Art Umweltschutzbewegung: Diese frühen Grünen, die sich durch fremde Mächte aus dem Zustand der Unschuld gebracht sahen, begaben sich also auf die Suche nach dem verlorenen Paradies.

Licht war das entscheidende Moment in der Vorstellung von FKK-Freunden, das Gegenteil von Dunkelheit, also der Kontrapunkt von allem Sexuellen. Zahllose Plakate der Lebensreformer zeigten nackte Jungen und Mädchen in strahlendem Sonnenschein, die Arme emporgestreckt. Wobei heute auffallen muss, dass die gezeigten Figuren immer jung waren, also dem Klischee aufsaßen, dass Schönheit eine exklusive Angelegenheit von jungen Menschen ist.

Die zweite naturschwärmerische Bewegung, die Ende der Sechzigerjahre entstand, enthielt alle Motive, die auch die Lebensreformer hatten: der Glaube an die Möglichkeit, den Menschen wieder zurück in einen Zustand von Unschuld zu bringen. Woodstock, das nicht ohne Grund der Liebe und dem Frieden und nicht dem Sexuellen gewidmet war, war das damalige Signum für die Kraft, nackt zu sein, also friedlich und frei. Das Nackte sollte sogar, im Gegenteil, gegen das Sexuelle schützen, immun machen, die Sünde bannen. Sie wirkten wie Onanisten, die sich jedesmal wieder vornehmen, nie wieder Hand an sich zu legen – bis zum nächsten Mal: was einer Prüderie mit chronischen, aber uneingestandenen Schuldgefühlen gleichkommt.

Was ebenso zur ideologischen Grundausstattung von Nudisten der Jahrhundertwende gehörte, war der Glaube, dass Nacktheit gesund macht und dass sie, gereinigt vom sexuellen Begehren, auch den Charakter sauber hält. Beides sind Wahnvorstellungen aus dem Seelenleben von Spießern – und nicht umsonst wurde Sigmund Freud von völkisch orientierten Lebensreformern gehasst wie kein zweiter jüdischer Wissenschaftler. Der Arzt und Psychoanalytiker hatte nämlich behauptet, dass kein Mensch ohne Alltagsantennen durch die Welt läuft, die ihm oder ihr stetig vermelden, ob ein Objekt der körperlichen Begierde gerade an einem oder einer vorbeiläuft – und dass dieser Radar sich mit der Pubertät herausbildet.

So erklärt sich auch, weshalb viele FKK-Familien irgendwann doch wieder Urlaub an Stränden mit Textilzwang verbringen, weil deren heranwachsende Kinder sich weigern, nackt in aller (Vereins-)Öffentlichkeit herumzulaufen: Ihre Scham, die sexuelle Konkurrenz mit den Erwachsenen noch nicht zu bestehen, ist oft heftiger als die Angst, sich mit den Eltern anzulegen. Nacktheit scheint wieder dorthin zurückzukehren, wo sie vermutlich auch hingehört: in den privaten Bereich, in die Intimität der Beziehungen, dorthin, wo es dunkel sein kann. Selbst in schwulen Saunen wird nur in schummerigen Ecken Sex veranstaltet, nur ausnahmsweise in lichteren Gefilden: Weil niemand im sexuellen Spiel als Tier sichtbar werden möchte, als enthemmt und losgelöst. Genau das ist es aber, was die meisten Menschen wollen, wenn sie vom guten Sex träumen. So skandalumwittert FKK-Strände oder Nudistenklubs noch zu den Zeiten Oswald Kolles oder Günter Amendts waren, so sehr hat sich die mitteleuropäische Welt an barbusige Frauen oder (seltener) nackte Männer gewöhnt. Gruppensex hat in solchen Reservaten nie öfter stattgefunden als anderswo, also fast nie. Nur die Fantasie hat den meisten Moralwächtern stets einen Streich gespielt: Sie dachten, dass dort stattfinde, was sie fürchten. Freud hätte ihnen gesagt: Was sie insgeheim am allermeisten begehren.

Der DFK zählt 65.000 Mitglieder, eine verschwindende Menge verglichen mit Organisationen wie dem ADAC oder dem DGB. Sie werden weiter an ihrer Kraft arbeiten, im Lichte der Sonne zu besseren Menschen zu werden. Für manche sieht ihr Treiben komisch aus, andere möchten nicht so gerne ihnen zusehen, wenn sie mit Kühlbox und Thermoskanne ... Jedenfalls: Es ist ein kleiner Verein, der mindestens Artenschutz verdient hat. Um nicht zu vergessen, wie ängstlich und mutig zugleich viele Menschen einst versuchten, ihre Körperlichkeit zu bändigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen