■ Der bündnisgrüne Parteitag und die realen Machtverhältnisse: Mit Bravour zum Desaster
In zehn Jahren wird es die Doppelspitze für Führungspositionen bei Bündnis 90/Die Grünen nicht mehr geben, und die Trennung von Amt und Mandat wird aufgehoben sein. Das räumen hinter vorgehaltener Hand auch die allermeisten derjenigen ein, die eine Strukturdebatte zum gegenwärtigen Zeitpunkt für falsch halten. Wenn die Partei so weitermacht, dann sind die Veränderungen allerdings nicht zwangsläufig die Folge einer organisatorischen Reform. Vielleicht gibt es auch einfach die Grünen nicht mehr.
Einen Parteitag zu einem Desaster werden zu lassen, der überhaupt keine heiklen Beschlüsse zu fassen hat, ist eine schwierige Aufgabe. Die Delegierten in Erfurt haben sie mit Bravour gelöst. Frenetisch bejubelten sie die Forderung der Fraktionsvorsitzenden Kerstin Müller, vor einer Diskussion über die Parteistruktur müsse ein Streit über Inhalte stehen. Unmittelbar danach wurde per Geschäftsordnungsantrag ein Ende der Debatte beschlossen. Es reicht, den Willen zur inhaltlichen Auseinandersetzung zu bekunden – ausgetragen werden muß sie dann nicht mehr. Diese Haltung wird bei den Grünen allmählich Bestandteil der Traditionspflege.
Drei Reden haben den Parteitag in Erfurt bestimmt: Der scheidende Europaabgeordnete Wolfgang Ullmann erhielt stürmischen Beifall, als auch er davor warnte, mit einer Debatte über die Organisationsform von inhaltlichen Problemen abzulenken. Außenminister Joschka Fischer scheute danach angesichts der Stimmung im Saal die Niederlage und vertrat seine Forderung nach einer Strukturreform nur noch halbherzig. Kerstin Müller wurde zum Star der Veranstaltung, als sie kämpferisch und leidenschaftlich die Rückbesinnung auf alte Stärken verlangte.
Recht hat sie. Aber die Struktur ist eben längst nicht mehr eine der Stärken der Partei, sondern eine ihrer Schwächen. Die Doppelspitze schafft überhaupt erst die Voraussetzung dafür, daß inhaltlich nicht klar Position bezogen werden muß. Beide Strömungen werden mit Posten bedient und können bei Bedarf getrennte Pressemitteilungen herausgeben – wozu da noch nach einem gemeinsamen Weg suchen? Der Sieg eines Flügels über den anderen ist wichtiger als die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern.
Im Aufbau falscher Alternativen haben es Bündnis90/Die Grünen zur Meisterschaft gebracht. Strukturdebatte oder inhaltliche Diskussion, Prinzipientreue oder Professionalisierung: es scheint strömungsübergreifend das Vorstellungsvermögen zu sprengen, daß man das eine tun kann, ohne das andere zu lassen. Die Grünen stehen vor allem zu sich selbst in Opposition. Vor diesem Hintergrund dürfte die jetzt anstehende Entwicklung des Grundsatzprogramms wieder einmal ein Schauspiel werden, für das die Medien Vergnügungsteuer entrichten sollten.
Strukturdebatten seien nur Machtkämpfe, hat Kerstin Müller gesagt. Na und? Warum nicht zur Abwechslung einmal versuchen, zu gewinnen statt auszuweichen? Gegner einer Strukturreform fürchten um die Frauenquote. Wenn nun beispielsweise die Doppelspitze abgeschafft, aber die gemeinsame Quotierung von Kabinettsposten und Fraktionsvorstand verbindlich in der Satzung festgeschrieben würde – gingen aus dieser neuen Regelung die Männer oder die Frauen gestärkt hervor? Im phantasielosen Beharren auf alten Strukturen spiegelt sich eine Furcht vor künftigen Niederlagen, die diesen überhaupt erst den Weg bereitet. Langfristig haben niemals und nirgendwo diejenigen gewonnen, die auf eingefahrenen Gleisen einfach nur weiterrollen wollten.
Die Partei richtet den Blick so ausdauernd auf sich selbst, daß sie gar nicht zur Kenntnis nimmt, wo die Musik tatsächlich spielt. Kein Wort ist in Erfurt dazu gesagt worden, daß sich Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Joschka Fischer und Jürgen Trittin künftig regelmäßig treffen wollen, um Koordinationsprobleme besser in den Griff zu bekommen. Kanzler und SPD-Chef sind dazu durch ihre Ämter legitimiert. Was legitimiert die grünen Minister? Warum ist die Gesundheitsministerin Andrea Fischer nicht dabei? Warum nicht die Parteivorsitzenden von Bündnis90/ Die Grünen? Weil die realen Machtverhältnisse nicht so sind. Denen wird Rechnung getragen. Überall, außer in den immer steriler werdenden Hallen grüner Parteitage. Bettina Gaus
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