: Der alte Mann und sein Amerika
■ Der Meister der „oral history“, Studs Terkel, über den alltäglichen Rassismus
Er nennt es eine „amerikanische Obsession“, die Auseinandersetzung über Hautfarbe und Differenz. Studs Terkel, einer der bekanntesten Rundfunkjournalisten Amerikas und Meister der „oral history“, fragt in seinem neuesten Buch, ob Hautfarbe immer in den Gedanken der Menschen sei. Und er erhält von fast allen Befragten die Antwort: Ja. Viele der Gespräche wurden in Chicago geführt, der Stadt seines Lebens, die der 82jährige Terkel wohl wie kein anderer kennt. Eine Stadt, ständig in Bewegung und von Veränderung begriffen, permanent mit der Identitätsfrage konfrontiert: Wer sind wir, wohin gehen wir? Chicago wird so zur Metapher für Amerika und dessen vielbeschworenen „Amerikanischen Traum“, der für Terkel bestenfalls die Summe der vielen „verlorenen und wiedergefundenen Träume“ sein kann.
Viele der einfachen, durchschnittlichen Amerikaner, der „Normalbürger“, wie es bei uns so schön heißt – und die ja letztlich das gesellschaftliche Klima bestimmen –, haben ihren Traum verloren, gefunden, aber auch wieder verloren. Diese Träume sind farbenblind: anerkannt zu werden für eigene Leistungen, eine Chance zu bekommen, sich zu entfalten, einen guten Job, ein nettes Haus, eine glückliche Familie zu haben... Terkels Gesprächstechnik läßt die Befragten auf sich selbst zurückfallen, gibt ihnen Reflexions- und Resonanzflächen, über deren Klugheit und Selbstironie man gar nicht überrascht genug sein kann. Manchmal ist das Echo aber auch bitter, und die Befragten erschrecken über sich selbst. Das ist der Moment der Wahrheit, wenn besonders die weiße Arbeiterklasse über die „faulen, stinkenden Neger“ herzieht. „Aber die, die ich kenne, finde ich in Ordnung, mit denen kann ich“ ...
Viele der Befragten wandern von ihren Kindheitserfahrungen hin zu einzelnen Szenen, Episoden, die sich in ihrer Erinnerung bis zur Stereotypie verdichtet haben. Die Hautfarbe „der anderen“, dieses „die“ und „wir“, scheint Präokkupation aller. Da fährt eine Weiße, die in den 60ern in der Bürgerrechtsbewegung aktiv war, panisch mit dem Auto an einer Gruppe wild gestikulierender Schwarzer vorbei. Angst. Aber eigentlich wollte man sie nur darauf hinweisen, daß sie in einer Einbahnstraße fuhr. Ihr Mann: „Das steckt doch in jedem von uns drin.“
Besonders die 40er und 50er Jahre im Süden der USA, die Bilder vor dem großen Aufbruch der 60er, sind die der Stagnation, der Brutalität im Alltag. Ein Feuerwehrmann erzählt, daß er bei Häuserbränden nur vor der Tür löschen durfte; ein Junge ging mit seinem Freund ins Schwimmbad. Als der ins Becken sprang, wurde das geräumt und man desinfizierte das Wasser: Der Junge war schwarz.
Studs Terkel mischt, im Großen wie im Kleinen. Er spricht mit Leuten, die er schon für andere Buchprojekte in den 60er Jahren, der Hochzeit der Bürgerrechtsbewegung, interviewt hatte. Den Zeitschichten entsprechen oft Verlagerungen: die liberale Weiße wird konservativer, der Ku-Klux-Klan- Anhänger setzt sich mit seinen Feinden auseinander und lernt im Laufe der Jahre, dies auszuhalten. Eine andere Technik ist die der Betrachtung sozialer Zusammenhänge oder ganzer Berufsgruppen: Familiengenerationen werden befragt, der Konservatismus eines Mittelklasse-Schwarzen kollidiert mit der Wut einer weißen Sozialhilfeempfängerin, die sich plötzlich in der „Unterklasse“ wiederfindet und feststellt, daß ihre schwarze Nachbarin die strukturell gleiche Diskriminierung erfährt wie sie. Oder aber, Terkel legt die Hand an den Puls ganzer Institutionen wie Schule, Universität, Polizei.
Und so wandert man von Geschichte zu Geschichte, den schrecklichen, den pessimistischen, den originellen, den ratlosen, den optimistischen: Die Wirklichkeit ist und bleibt komplex. Für fast alle Menschen ist und bleibt der Mord an Martin Luther King Mitte der 60er ein Trauma, und fast alle finden, besonders unter Reagan und Bush habe sich das Klima im Land merklich verschlechtert.
Terkel ist, wie John Kenneth Galbraith meinte, eine „nationale Ressource“, ja eine Art nationales Gewissen. Das brachte den alten Mann aus Chicago immer dazu, zumindest verhalten optimistisch zu bleiben. So komplettiert er denn auch sein vielleicht letztes Werk, das zu einer Zeit erscheint, in der die USA eine massive Identitätskrise erleben, mit den Aussagen eines „Mischlings“: „Die wahre Tragödie der Weißen und Schwarzen in Amerika ist nicht, daß sie einander hassen. Haß ist eine seichte Kraft, er kann nur bis zu einem gewissen Grad verletzen. Die wahre Tragödie ist, daß wir einander lieben und bewundern. Die Tragödie liegt in der Komplexität dieser Liebe und Bewunderung, die sich irgendwie in Intoleranz verwandelt hat [...] Ich glaube fest daran, daß wir reifer werden können. Es sind schon unwahrscheinlichere Dinge passiert.“ Andrea Seibel
Studs Terkel: „Die sind einfach anders, Die Angst vor der anderen Hautfarbe – der alltägliche Rassismus in Amerika“. Aus dem Amerikanischen von Werner Kügler, Europaverlag 1994, Wien, 415 Seiten, 49,80 DM
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