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Der algerische Sozialismus hat ausgedient

Im Spannungsfeld wachsender sozialer Widersprüche liegt die Religion im Trend / Macht und Privilegien haben sich bei der Armee angesammelt - aber ihr revolutionärer Nimbus ging verloren / Was ist, wenn die Armee die Religion entdeckt?  ■  Aus Algier Georg Blume

Er ist Berber, und er war ein großer Freiheitskämpfer gegen die Franzosen. Er steht auf Whisky trocken und liebt Günther Grass. Sein Titel: Präsidentschaftsberater außer Dienst. „Gigi“, wie er hier genannt werden will, ist derzeit bester Laune: „Endlich zeigt die Jugend Mut. Sie hat lange genug geschlafen.“

Eine Woche lang, so erzählt er, war er Tag und Nacht auf den Beinen, um keinen Steinwurf zu versäumen. Doch genug geträumt. Gigi will mich sozialistische Wirklichkeit lehren.

Es heißt, Algiers Nächte seien kurz geworden, es fehle an Alkohol. Wie dem auch sei, diese Nacht wird lang und kostet Gigi 100 Dinar pro Whisky trocken, einen guten algerischen Tageslohn. Wir sitzen in der besten Nachtbar der sozialistischen Hauptstadt Algier und Gigi stellt vor: einen Hubschrauberpiloten, zwei Leutnants aus der Stadt Oran und einen Autoersatzteilhändler. Zu ägyptischen Rhythmen tanzt sich Algeriens Elite warm. Gigi differenziert: „Ein Drittel Armee, ein Drittel Geheimdienst, ein Drittel Neureiche.“

Der Hubschrauberpilot will eine neue Partei gründen zur Unterstützung Chadli Benjedids. Er meint, das würde dem Staatspräsidenten jetzt gefallen. Gigi kennt den Burschen, er soll über große Mittel verfügen. Sein Vater war Revolutionshauptmann im großen Unabhängigkeitskrieg von 1954 bis 1962.

Am frühen Morgen, zum Ausklang der ägyptischen Nachtmusik, ruft es von den Moscheen bereits zum Gebet. Später, gegen Mittag, ergreift Scheikh Bel Hadj Aissa, Algiers Fundamentalistenführer, das Wort. Tausende sind zum Gebet nach Bab-El-Oued gekommen, dem in den vergangenen Tagen am heftigsten umkämpften Stadtteil Algiers. Dort predigt Bel Hadj Aissa gegen die Regierung, die „die Reichen reicher und die Armen ärmer“ gemacht habe, vor allem aber gegen die Armee, die Demonstrationen gewaltsam verhindert habe, welche „weder von innen noch außen manipuliert und von der Polizei genehmigt waren“.

Der Scheikh weiß: Mehr noch als die Regierung ist die Armee Anlaß des Unmuts. Das Nachtleben der Militärs kommt nicht von ungefähr. Die Privilegien der Armeeführung lassen sich kaum mehr verheimlichen. Samia, eine junge Krankenschwester aus Algiers Trabantenvorstadt El Harrach, erzählt: „Meine Freundin hat zwei Jahre ununterbrochen eine Wohnung gesucht. Es war aussichtslos. Dann lernte sie einen Hauptmann kennen.

Einen Monat später hatte sie ein neues Apartment.“ Samia weiß, was hier alle wissen. „Etwas weiter östlich hat die Armee einen Privatstrand. Dort kostet ein 'Eskimo'-Eis zwei Dinar. Normale Menschen zahlen dafür auf der Straße zehn Dinar.“

Über das algerische Militärbudget gibt es keine offiziellen Angaben. Doch schätzen ausländische Beobachter, daß es weit mehr als die Hälfte des gesamten Staatshaushalts umfaßt. Währenddessen wundert es niemand mehr, wenn Armeelastwagen Zement und Steine auf eine Baustelle im Villenviertel El Biar fahren. Dann ist zumindest klar: Dort baut ein General.

Gigi hatte gestöhnt: „Mir ist das Leben zu bequem geworden. Vor kurzem kam ich besoffen in eine Polizeikontrolle. Also holte ich meine Ehrenmedaillen aus der Tasche - und was machte der Bulle? Er salutierte.“ Doch Gigi, der ein alter Kommunist ist, es nicht mehr sein will, und deshalb Grass liest, gehört nicht mehr in diese Zeit. Abgesehen von einigen unverbesserlichen Helden - die Oberen der Staatsarmee haben es sich in Algerien bequem gemacht.

Das war ja nicht immer so. Der Befreiungsmythos einer Armee, die einst im sozialen Auftrag neue Dörfer baute, Land kultivierte und Wüste urbar machte, ist aufgebraucht. Junge Männer spüren die neue militärische Arroganz.

„In zwei Jahren Wehrdienst habe ich nur das Fegen gelernt,“ sagt Samias Bruder Ahmed, mit dem sie zusammen in einer winzigen, von Familienangehörigen geerbten Ein-Zimmer -Wohnung in El Harrach lebt. Die beiden haben noch Glück, in der Regel sind es zehn und mehrköpfige Familien, die sich wenige Quadratmeter teilen müssen. Die gigantischen Betonsilos der Vorstadt wurden noch von den Franzosen gebaut: „Hier“, sagte einst De Gaulle auf Besuch in El Harrach, „werden sie Kinder kriegen wie Kaninchen.“

Heute sind die Kinder da, gehen in die Schule und wollen Arbeit finden. Fast zwanzig Jahre lang hatte die algerische Einheitspartei FLN (Front de Liberation Nationale) verkündet: je größer die Bevölkerung, desto stärker unser Land. Doch die patriotisch-militärische Formel entpuppte sich für Algeriens Jugend als billige Lüge: Heute bemüht sich die Armee auch nicht mal mehr ansatzweise um eine Ausbildung der Wehrpflichtigen.

Arbeitslosigkeit aber gibt es in Algerien nicht, sagt die Regierung - entsprechend zahlt sie also keine Arbeitslosenunterstützung. Staatspräsident Chadli verspricht lediglich, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Jugend soll warten.

Fundamentalistenführer Bel Hadj Aissa widerspricht dem nicht. Seiner nach den Unruhen neugewonnenen Autorität bewußt, empfiehlt er nun, „Weisheit und Recht“ zu bewahren. In der Tat soll Bel Hadj schon in der vergangenen Woche mit Staatspräsident Chadli eine Zusammenkunft gehabt haben, die ihm unerwartet eine gewichtige Verhandlungsposition verschafft habe. Sollten die Differenzen zwischen Religions und Staatsführern letztendlich auch in Algerien nicht so groß sein, wie man gemeinhin annimmt?

Der Islam ist in Algerien unausgesprochene Staatsreligion. Die Verfassung erwähnt die Religion nicht, doch kaum eine Rede Chadlis verzichtet auf die Worte des Korans. Fast jede Woche erscheint den Algeriern der Fernsehprediger Scheik Ghazali. Er begründete die herrschenden Zustände aus dem Koran - mit großem Erfolg.

Dabei kann Ghazali als Reformist gelten, der, falls erwünscht, auch die Geburtenkontrolle begründet. Ghazali spricht wie Chadli gerne von der „arabisch-islamischen Kultur“. So lautet Algeriens ideologisches Fangwort der achtziger Jahre. Es schließt das radikale Schiitentum ebenso aus wie die Kultur der Berber, Tuareg und anderer diskriminierter Völkergruppen des Landes. Doch kann der Slogan mehrheitsfähig werden.

Die Religion liegt im Trend. „Immer mehr Mädchen tragen heute wieder den Hejab (das traditionelle islamische Schleiergewand, d.R.)“, sorgt sich Samia. Sie weiß, daß die Mädchen dafür gute Gründe haben: „Der Hejab verschafft jungen Frauen Frieden mit den Eltern, die dann weniger Angst haben, wenn ihre Tochter ausgeht. Und tatsächlich haben sie viel weniger Ärger mit den Männern auf der Straße. Außerdem gewinnen die Frauen mit dem Schleier ein moralisches Selbstbewußtsein, das ihnen in der Enge der Gesellschaft sonst niemand geben kann.“ Samia hat Angst. Kann die Hejab -Mode bald Gesetz werden?

Der algerische Sozialismus hat ausgedient. Sein ehemaliger Gleichheitsanspruch ist von denen, die ihn in erster Frontlinie erkämpften, verraten: In den Augen des Volkes vereinigt die FLN-Truppe heute Geld und Macht im Staat. Den fundamentalistischen Predigern ist es gelungen, dem sozialen Anspruch des Islams neue Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Doch ist es nicht ganz ausgeschlossen, daß sich die algerische Armee eines Tages auch der neuen religiösen Welle anschließt: Algeriens Intellektuelle fürchten weder Staatspräsident Chadli noch den baldigen Aufmarsch der Khomeini-Anhänger im Land, sondern vielmehr einen „arabisch -islamischen“ Putsch der eigenen Armee.

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