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Der Zwang zur Beschleunigung

Als Antwort auf den innereuropäischen Mobilitätsdrang bohrt die Schweiz zwei neue Eisenbahntunnel durch die Alpen. Eine Inspektion

von YVES ROSSET

Alles begann im Jahre 1240, als die „Teufelsbrücke“ über die Reuß in der Schlucht der Schöllenen gebaut wurde. Die Gotthardstraße war als direkter Weg zwischen Norditalien und den Märkten Flanderns und der Hanse etabliert. Um die Kontrolle über den steigenden Transitverkehr sowie die lukrativen Zolleinnahmen zu bewahren, vereinigten sich fünfzig Jahre später die Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwald – die Urschweiz war geboren. Sieben Jahrhunderte später hat sich einiges geändert, aber der Alpenstaat ringt immer noch um seine Stellung als Transitland mitten in Europa.

Der Druck ist enorm. Nicht weit von der historischen Route, wo einst Boten, Pilger, Dichter, Wissenschaftler, Händler, Reisende sowie Armee und Söldner jahrhundertelang zu Fuß gingen, fahren jetzt im Schnitt 18.300 Fahrzeuge pro Tag durch das enge Tal der Reuß im Kanton Uri und das Leventinatal im südlichen Tessin. Tendenz steigend.

Männer vom Bau für den Fortschritt“ steht auf einem Plakat am Eingang des Dorfs Amsteg im Kanton Uri. Die Druckfarben sind verblasst. Nur die Schrift und die Silhouetten von Helmen tragenden Männern sind noch zu sehen. Die Botschaft ist dreißig Jahre alt, aus der Zeit, als die Autobahn N2 Richtung Süden gebaut wurde. Einige Meter weiter prahlt eine frisch gedruckte neue Botschaft. „Wir bauen die Zukunft“, kündigt die Alptransit AG auf ihrem Informationspavillon an. Alptransit ist eine hundertprozentige Tochter der Schweizer Bahn SBB und wurde vom Bund beauftragt, die neue Eisenbahnalpentransversale (Neat) zu bauen. Für den Lötschbergbasistunnel und den Gotthardbasistunnel wird ein gleichzeitiger Vortrieb in mehreren Teilstücken gebaut.

In Amsteg findet ein so genannter Zwischenangriff statt. Die Vermehrung der Angriffsfronten verkürzt nicht nur Bauzeit und Kosten, sie hängt auch mit dem künftigen Tunnelbetrieb sowie der Geologie zusammen. Während an den Fußpunkten, wo die Zugangsstollen die Höhe der Röhre treffen, Dienststellen entstehen sollen, bestimmt die Felsqualität die Vortriebstechnik – Sprengen oder Tunnelbohrmaschinen (TBM). Um einige Stunden Fahrzeit gewinnen zu können, müssen ja unterschiedliche Gesteinsschichten durchbohrt werden, die sich während der Millionen Jahre dauernden Alpenbildung ineinander geschoben haben.

Peter Groß, Ingenieur und Bauleiter in Amsteg, erklärt mir, dass exakt 807-mal in Gneiß für den 1,8 Kilometer langen Zugangsstollen gesprengt wurde. Er führt mich zum Fußpunkt, wo zwei Montagekavernen für die Hartgesteins-Vollschnitt-Tunnelbohrmaschinen mit einem Durchmesser von 9,58 Metern gesprengt werden sollen. Die bis zu dreihundert Meter langen computergesteuerten TBM sehen wie riesige Bohrer aus und können sich bei günstigen Bedingungen täglich über zwanzig Meter in den Fels fressen. Elektromotoren drehen den Bohrkopf, der mit hydraulischen Pressen gegen den Fels gedrückt wird und Chips, tellerförmige Steinstücke, aus dem Fels reißt, die dann über Förderbänder nach hinten auf die Wagen der Stollenbahn verladen und abtransportiert werden.

Der Durchschlag mit dem Teilabschnitt von Sedrun, elf Kilometer südlicher, soll 2006 stattfinden. Dank Satelliten, Computersimulation und Lasertechnologie sollen die Röhren mit maximal zwanzig Zentimeter Abweichung aufeinander treffen. Von Sedrun aus, einem kleinem Ort Graubündens unweit der Rheinquelle, wird seit 1996 an dem spektakulärsten Zwischenangriff der Neat gearbeitet.

Am Ende eines einen Kilometer langen Zugangsstollens führt ein achthundert Meter tiefer senkrechter Schacht zu einem Komplex von Kavernen, wo eine so genannte Multifunktionsstelle mit bahntechnischen Einrichtungen, Nothaltestellen und Spurwechseln entstehen wird. Für den Bau des Schachts sind die Schweizer auf die Hilfe von Spezialisten aus Südafrika angewiesen.

Peter Gross hat sein Büro in der gleichen Holzbaracke eingerichtet, wo die Projektingenieure den Bau der N2 leiteten. Nebenan werden die Vorbereitungen für den Bau des Barackendorfs getroffen, wo bis zu dreihundert Tunnelbauspezialisten leben werden. Der Bau soll so umweltschonend wie möglich geschehen. „Sogar die Eidechsen sollen sich weiter sonnen können“, erklärt Peter Gross mit leichter Ironie und zeigt auf einzelne, extra zu diesem Zweck im Gras installierte Steinhaufen mitten auf dem Baustellengelände.

Am nächsten Tag fahre ich nach Mitholz in Berner Oberland, wo ein Zwischenangriff für den Bau des Lötschbergbasistunnels stattfindet. Die naive Frage, die mich schon lange beschäftigt, kann ich endlich stellen: „Wie hält das Loch eigentlich?“ „Wie in naturgegebenen Höhlen“, antwortet Görge Blendermann. Er weiß es. Der 35-jährige diplomierte Ingenieur aus der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich arbeitet in der Oberleitung der Baustelle. Er prüft den Baubetrieb für die Alptransit AG. Seit zehn Jahren hat Blendermann fast ausschließlich im Tunnelbau gearbeitet. Tunnelling ist ein Fach mit wachsender Bedeutung – wegen des zunehmenden Verkehrsaufkommens in den Großstädten sowie steigender Hygiene- und Energiebedürfnisse. Schon in der Antike war Tunnelbau von vitalem Interesse. Auf der Insel Samos etwa ließ der Architekt Eupalinos eine 1.265 Meter lange Galerie bauen, um Wasser umzuleiten.

Blendermann fährt mich mit einem Jeep nach unten. Es gibt nur fahle elektrische Lichtflecken in der Dunkelheit, und ich sehne mich sehr schnell nach der Sonne, die draußen die geblendete Alpenlandschaft halluzinatorisch wirken ließ. 1.200 Meter unter der Erdoberfläche fahren wir an der Betonzentrale und der Werkstätte vorbei, wo die Baumaschinen repariert und aufbewahrt werden. Den letzten Kilometer bis zur Tunnelbrust gehen wir zu Fuß. Die Luft ist warm, feucht und stinkt leicht nach Ammoniak. Der Geruch kommt von dem SL 700, der neuen explosiven Mischung der schwedischen Firma Dyno Nobel AG. Der Sprengvortriebszyklus steht fest und dekliniert sich immer gleich: bohren, laden, sprengen, lüften, sichern/schuttern.

„Bohrjumbos“ heißen die fast gänzlich computergesteuerten, mehrarmigen Maschinen, die in der heißen Luft an der Tunnelfront mit einem erschreckenden, schillernden Lärm den Stein mit Bohrlafetten für den SL 700 frei bohren. Dieser besteht aus zwei flüssigen Komponenten, die für sich allein genommen ungefährlich sind, zusammen aber den Berg nach einem strengen Sprengplan explodieren lassen. Innerhalb einiger Zehntelsekunden wird der SL 700 spiralartig vom Zentrum her elektrisch angezündet, damit der Stein richtig nach innen bricht.

Zweihundert Meter hinter der Front befindet sich die so genannte Hängebühne. Zirka zwei Meter unter der Tunnelwölbung montiert, wird sie auf Deckenschienen rollend in die Röhre vorgeschoben. Auf ihr werden Ventilatoren, Luftdruck- und Methanmessgeräte sowie Staubfilter installiert, während unten der Maschinen- und Lkw-Verkehr bis zur Tunnelbrust weiterfahren kann. Direkt neben ihr liegt der Rettungscontainer, wo die Arbeiter mit einer Luftreserve für bis zu zwölf Stunden Schutz finden können.

Heutzutage werden die meisten Unfälle durch den Baumaschinenverkehr verursacht. Wassereinbrüche, Methanexplosionen und Feuer können aber immer noch gefährlich sein. Blendermann darf mich nicht zur südlichen Front fahren. Dort sind gerade Spezialisten aus dem kanadischen Québec am Werk. Eine Risikostelle, weil viel Wasser durch das Gestein fließt. Vor dem Sprengen muss dort zuerst Beton in den Berg eingespritzt werden.

Beton wird ohnehin viel gebraucht und, wenn die Felsqualität es erlaubt, direkt aus dem Ausbruchmaterial hergestellt. Dieses wird mit Förderbändern nach außen transportiert und dort gebrochen, gewaschen und gesiebt und dann wieder nach unten gebracht und zu Beton gemischt. Um das Tunnelgewölbe zu sichern, werden Stahlverankerungen in dem Stein fixiert. Dann kommen Netze aus Gitter dazu, die wieder mit Beton gespritzt werden.

Trotz des immensen technischen Aufwands ist Naturvertrauen angesagt. Der Berg hält sich, wie gesagt, im Grunde genommen selbst. Im Januar 2001 zählte die Swiss Tunnelling Society 1.186 Tunnel in der Eidgenossenschaft, mit einer Gesamtlänge von 1.614 Kilometern. Optimismus und Fortschritt lassen sich eben leicht durch Zahlen belegen. Pessimismus aber auch: „In der Schweiz gibt es die meisten Tunnel der ganzen Welt. Ich habe es in einem statistischen Jahrbuch gelesen“, ließ Friedrich Dürrenmatt schon 1955 einen Reisenden in seiner Erzählung „Der Tunnel“ sagen.

Der Zug, in dem sich der Reisende befindet, ist gerade in einen Tunnel eingefahren. Der kommt aber nicht wie geplant nach einigen Minuten wieder heraus, sondern rast bis zum Ende der Geschichte immer weiter und schneller ins Erdinnere, weiter in das immer heißer werdende Loch der Geschwindigkeit, in das sich die Mobilgesellschaft hineinbohrt.

„Was sollen wir tun?“ fragt schließlich der Zugführer. Und der Reisende antwortet: „Nichts.“

YVES ROSSET, 1965 in Lausanne geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Er hat einen Abschluss in Psychologie, war Koch, Barmann und Aushilfsempfangschef der taz. Heute ist er freier Autor. Für das Manuskript seines Romans „Aires de repos sur l’autoroute de l’information“ erhielt er den Schweizer Prix Georges-Nicole 2001. Derzeit befindet sich Yves Rosset auf einer Weltreise

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