: „Der Zaun sieht irgendwie kleiner aus“
Vor zehn Jahren endete die Flüchtlingskrise in der Prager Botschaft mit Genschers historischer Ausreiserede. Grund genug für Schröder, mal kurz vorbeizuschauen. Auch einige erinnerungswillige Ex-Flüchtlinge kamen ■ Aus Prag Ulrike Braun
„Das gibt's doch nicht, das ist ja der Schröder!“ Die Touristen, die am Donnerstag nachmittag auf der Prager Karlsbrücke im Regen spazierten, wollten ihren Augen nicht trauen. Der Bundeskanzler war einen Tag in Prag, um des 10. Jahrestags von Hans-Dietrich Genschers schon historischer Ausreiserede in der Prager Botschaft zu gedenken. „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist“, hatte der damalige Bundesaußenminister vom Balkon der Botschaft den über 4.000 DDR-Bürgern zugerufen, die schon Wochen dort ausgeharrt hatten.
Bundeskanzler Schröder, zwischen Unterzeichnung des deutsch-tschechischen Kulturabkommens und einem Besuch bei Präsident Havel, war gerade auf Altstadtspaziergang mit seinem tschechischen Amtskollegen Miloš Zeman. Da schüttelte er Rentnern aus Pforzheim die Hand, ließ sich mit Schulklassen aus Oldenburg fotografieren, unser Kanzler zum Anfassen. Vielleicht freute er sich ja, dass seine Beliebtheit wenigstens auf der Prager Karlsbrücke nicht am Sinken war.
„Mein erster Gedanke war: Mensch, der Zaun sieht irgendwie kleiner aus“, erzählt Regina Kappel, die Ende September 1989 im neunten Monat schwanger mit ihrem Mann und ihrem damals sechsjährigen Sohn über den Zaun in den Botschaftsgarten geklettert war. Die Arztfamile aus Halle hatte eines Tages nicht einmal ihre Siebensachen gepackt und war mit ihrem Lada übers Erzgebirge in die Tschechoslowakei gefahren. „Der Staat wurde immer dreister“, sagt Dietrich Kappel, der sich schon im Jahr zuvor als Ausreisewilliger geoutet hatte. „Als sie tatsächlich einmal unten vor unserem Haus standen, hat es gereicht.“ An der Grenze wurden sie dann erst einmal auseinander genommen. Der DDR liefen in diesem Sommer die Menschen weg. An der tschechischen Grenze war jeder ein potenzieller Republikflüchtling. „Ich hatte glücklicherweise viele tschechische Ein- und Ausreisestempel in meinem Pass, weil wir als Studenten jedes Jahr im September nach Prag zum Biertrinken sind“, erzählt Dietrich Kappel. „Das machte uns wohl irgendwie authentischer.“ In Prag haben sie den Lada vor der US-Botschaft, 500 Meter unterhalb der bundesdeutschen Vertretung, gelassen und sind dann über den Zaun.
„Wie eine Sommerparty“ sei es dort anfangs gewesen, meint Kappel. Aber es kamen immer mehr über den Zaun geklettert, bald herrschte Platznot und Chaos. Sogar mit dem Schlafen hätten sie sich abwechseln müssen, erinnert sich Kappel, dessen Vater, ein Pflanzengenetiker, sogar einmal Chruschtschow getroffen hatte: „Die Frauen durften nachts, die Männer tagsüber.“
Als ihnen dann Genscher ihre Ausreise zusicherte, kam zuerst eine „wahnsinnige Euphorie“ auf, dann aber auch der Schock. „Wir hatten ja geglaubt, uns würde, wie es sonst so üblich war, unsere Ausreise innerhalb von sechs Monaten zugesichert,“ sagt Kappel. Dann wären sie in die DDR zurück, hätten ihre Sachen gepackt und wären gen Westen umgezogen. So war aber alles weg. Der bewegendste Moment kam, als die ersten Flüchtlinge die Botschaft verlassen durften, erinnert sich das Ehepaar: „Die Tschechen standen an den Fenstern und klatschten, eine Frau warf uns eine Rose zu.“
Reiner Beuthan war im Spätsommer 1989 drei Tage lang in der Botschaft. Freunde aus Prag hatten ihm damals geholfen, das barocke Palais auf der Prager Kleinseite unterhalb der Burg überhaupt zu finden. „Alle fünf Minuten gab es ein anderes Gerücht. Als Genscher kam, konnte das kaum einer glauben“, erzählt der Kinderarzt aus Thüringen. Erinnern kann er sich noch, dass auch die Staatssicherheit ihre Leute über den Zaun geschickt hatte. „Die erkannte man gleich an ihrem blöden Gequatsche.“
Beuthan lebt und praktiziert heute in Niederbayern. Hätte er mehr Lebenserfahrung gehabt, hätte er sich im Westen vielleicht nicht gleich im erstbesten Dorf hinter der Grenze niedergelassen. Ansonsten bereut er an seinem Schritt vor zehn Jahren nichts. „Die alltäglichen Mängel in der DDR haben einen einfach fertig gemacht. Das war schlimmer als die politischen Mängel.“
Margot Klotzek und ihre beiden Söhne Dirk und Andreas waren Botschaftsflüchtlinge Nummer 263, 264 und 265. Sie wollten eigentlich über Ungarn flüchten, wurden aber an der ungarisch-tschechoslowakischen Grenze wieder zurückgeschickt. „Wir hatten Angst, wieder in die DDR zurückzufahren, sind deshalb in Prag in die Botschaft“, erinnert sie sich. Inzwischen lebt die gelernte Kellnerin in Limburg an der Lahn, arbeitet in einem Klempnereibetrieb, fühlt sich glücklich. „Ich würde das jederzeit wieder machen.“
Zufrieden sind auch die Kappels, die sich nach der Ausreise bei Worms niedergelassen haben. Schon Anfang Dezember 1989 konnte der Zahnarzt seine Praxis eröffnen. Die notwendigen Papiere, die er bei seiner etwas überstürzten Abreise zurückgelassen hatte, hat ihm ein Bekannter auf einer getürkten Geschäftsreise in die DDR besorgt.
„Privat geht es uns sehr gut“, freut sich Kappel, der schon gar keine neuen Patientien mehr aufnimmt, „wenn, dann nur private und auf Empfehlung“. Inzwischen ist die Familie schon Bestandteil des Lebens in ihrer neuen Heimat: „Kommt schon vor, dass ich auch mal die Karnevalsrede halten muss.“ Tochter Anna Barbara kam kurz nach der Ausreise zur Welt. Benannt wurde sie nach Genschers Frau Barbara.
Hinweis:Wie eine Sommerparty war es anfangs in der Botschaft. Aber bald herrschten Platznot und Chaos. Sogar beim Schlafen musste man sich abwechseln.
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