Der Westalgie auf der Spur: Leises Heimweh nach der Insel
Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins wird wieder mal Bilanz gezogen. Neuen Studien zufolge ist die Westalgie inzwischen verbreiteter als die Ostalgie. Eine Spurensuche im Stadtgebiet.
In Berlin leben derzeit 3.440.400 Menschen. Wie viele von ihnen im ehemaligen Westteil und Ostteil der Stadt leben, wird in der Statistik offiziell nicht mehr erfasst. Der Grund: Mit Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg sind gleich zwei der zwölf Bezirke Ost-West-Bezirke.
Gewinner- und Verliererbezirke gibt es sowohl im Westen als auch im Osten. Den meisten Bevölkerungszuwachs seit der Wende erlebten aber Ostberliner Stadtteile und Bezirke wie Pankow, Friedrichshain und Treptow-Köpenick.
Trotz der steigenden Mieten bei Neuvermietung zieht jährlich noch immer jeder fünfte Haushalt um. Bemerkenswert dabei ist, dass dabei nur jeder zehnte Zehlendorfer und Spandauer eine Bleibe im ehemaligen Osten sucht. Umgekehrt findet auch nur jeder zehnte Marzahner und Hellersdorfer den Weg in den Westen.
Den Tag der Deutschen Einheit begleiten zahlreiche Feierlichkeiten. Zur größten von ihnen am Brandenburger Tor werden bis zu 300.000 Besucher erwartet. (taz)
Bürgerinitiativen gründen, das können sie, die Zehlendorfer und Steglitzer. Lieber wäre ihnen aber, alles bliebe beim Alten: Tegel der Hauptstadtflughafen, Ostberlin die Einflugschneise, Berlin eine geteilte Stadt.
Das ist die Botschaft, die der Berliner Westen dieser Tage dem Rest der Stadt verkündet. Ganz so, wie es der FU-Sozialwissenschaftler Klaus Schroeder festgestellt hat: 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, resümiert er in seinem gerade erschienenen Buch "Das neue Deutschland", sei die Westalgie inzwischen weiter verbreitet als die Ostalgie.
Bilanz gezogen hat auch die Berliner Sparkasse. Einer repräsentativen Umfrage zufolge sehen sich in den Ostbezirken immer noch 34 Prozent als "Ost-Berliner". Noch höher ist die Zahl auf der anderen Seite der Exmauer: Dort sagen 41 Prozent, sie seien eher Westberliner als Berliner.
Sind die Wessis also die heimlichen Verlierer der Einheit? Und wo ließe sich einer solchen Frage besser nachgehen als rund um Kudamm und Savignyplatz, das gefühlte Zentrum des verblichenen Westberliner Glanzes?
Hans Mende lässt sich mit der Antwort Zeit. "Vielleicht ist das historisch zu kurz gegriffen", sagt er. Mende, Jahrgang 1948, Fotograf, hatte vor einigen Jahren eine Ausstellung, deren Titel Sehnsucht suggeriert: "Westzeit". "Das ist aber nicht zu verwechseln mit Westalgie", beteuert er. "Der Titel sollte vielmehr verdeutlichen, wie Westberlin den Kudamm gerne gesehen hätte."
Mendes Bilder dagegen zeigten einen anderen Kurfürstendamm: weniger Schaufenster des Westens als vielmehr Demonstrationsort, Boulevard der Freaks und kleinen Leute.
"Nein", sagt Hans Mende schließlich, "der Westen ist kein Verlierer. Die Menschen im Westen haben eine viel größere Kontinuität in der eigenen Entwicklung. Die Ostler hatten mit sehr viel mehr zu kämpfen." Auch künftig ist ihm um den Kudamm und seine Seitenstraßen nicht bange. "In Mitte habe ich immer das Gefühl, einen Zahn zulegen zu müssen. Am Savignyplatz ist eine viel größere Ruhe."
Hier, direkt am Platz, beobachtet Ruth Spangenberg das Treiben durch die Scheiben der verglasten S-Bahnbögen. Seit 1980 betreibt sie den "Bücherbogen", für Kunst- und Architekturliebhaber eine Institution. "Das hier ist mein Zuschauerraum", scherzt sie, "draußen auf der Bühne ist die Stadt."
Und die hat sich tatsächlich verändert in den vergangenen dreißig Jahren. "Nach der Wende ist viel Geld in den Osten geflossen. Viele, auch aus dem Westen, haben dort ihr Glück versucht, es war ja die Zeit der Glücksritter."
Ruth Spangenberg wollte keine Glücksritterin sein, auch wenn ihr Buchhandlungen Unter den Linden angetragen wurden. Sie blieb im Westen. So konnte sie beobachten, wie das Leben - nach all den Abgesängen auf die City-West - langsam an den Savignyplatz zurückkehrte. "Natürlich würde ich mir wünschen, dass noch mehr junge Leute nach Charlottenburg kommen, aber dafür sind die Mieten wohl zu hoch." Mit Westalgie oder Ostalgie habe die Veränderung wenig zu tun. "Inzwischen ziehen die Galerien ja aus Mitte nach Kreuzberg und Neukölln."
Nur eins hat Ruth Spangenberg nicht vergessen - die Degradierung des Bahnhofs Zoo zum Regionalbahnhof. "Davon hat sich der Westen immer noch nicht erholt." Immerhin gibt es nun einen neuen Hoffnungsschimmer. "Wenn die Staatsoper im Schillertheater spielt, gewinnt Charlottenburg auch kulturell wieder an Bedeutung."
Wo bleibt sie nur, die Westalgie? Klaus Schroeder verweist in seinem Buch vor allem auf Umfragen und Studien. Anders als die Ostdeutschen, rechnet er vor, verglichen die Wessis ihre Situation nicht mit den Schwestern auf der anderen Seite der ehemaligen Mauer, sondern mit ihrem Leben vor 1990. "Sie neigen dazu, viele aktuelle Probleme der Wiedervereinigung anzulasten." Schroeder verweist auf eine Studie, der zufolge die Hälfte der Westler meint, die alte Bundesrepublik stünde ohne die Vereinigung heute besser da. Die Ostler sind da realistischer. Von ihnen stimmen nur 17 Prozent dieser Annahme zu.
Ganz anders sieht es freilich in Berlin aus, wo ein Drittel der Bevölkerung erst nach der Vereinigung zugezogen ist. Selbst am Kudamm oder am Savignyplatz, der noch immer ein wenig vom Glanz vergangener und studentenbewegter Tage lebt, will rechte Wehmut nicht aufkommen. Für die einen hat Berlins Entwicklung viel mit der Realität einer zunehmend attraktiven Metropole zu tun - Vor- und Nachteile inbegriffen. Andere spielen mit Ost- und West-Klischees, von denen sie selbst wissen, dass sie kaum zukunftstauglich sind. Richtige Westalgiker scheint es nur in der Statistik zu geben.
Oder in der Literatur.
Am Grunewaldsee führt eine Rentnerin den Hund aus. "Wie es mir geht? Gut", sagt sie, schüttelt unwirsch den Kopf, geht weiter. Was hätte Paul wohl auf die Frage geantwortet? Als die Mauer noch stand, fragten ihn drei Studentinnen, ob er mitkomme an den Grunewaldsee - an den Nacktbadestrand! Als die Mauer fiel, begann der Ernst des Lebens.
Zugegeben, Paul ist eine Romanfigur, der traurige Held in Hans-Ulrich Treichels wunderbarer Novelle "Grunewaldsee". Doch wie ihm ging es vielen der heutigen Fourtysomethings: Westberlin war nicht nur Insel (eine Welteninsel feilich!), es war auch ein biografischer Ort. Das gemächliche Leben auf diesem Eiland hat freilich nicht nur die Maueröffnung weggespült, sondern auch die Globalisierung. So sind Westalgie und Ostalgie auch Schwestern im Geiste - Trauer um das Lebensgefühl der Achtziger, das in beiden Teilen der Stadt eher schwarz-weiß war als bunt.
Ahmet Külahcis Büro ist im Regierungsviertel, Haus der Bundespressekonferenz, nah dran am Puls des politischen Berlin. Den Mauerfall erlebte der Leiter des Berliner Büros der Hürriyet in Bonn. "Aber gleich am nächsten Tag bin ich nach Berlin", erinnert er sich. Dass sich die Deutschen aus West und Ost gegen die Türken verbündet hätten, glaubt er nicht. "Die Türken haben sich genauso über den Fall der Mauer gefreut wie die Westberliner und die Ostberliner", sagt Külahci. Dass viele seiner Landsleute heute keinen Job haben, habe mehr mit der wirtschaftlichen Entwicklung als mit der Vereinigung zu tun. "Die Industriebetriebe haben dichtgemacht, es gab weniger Jobs. Das wäre auch ohne Mauerfall passiert."
Und was ist mit der Westalgie? Gibt es da vielleicht eine türkische Spielart? Külahci winkt ab. "Die Türken trauern Westberlin nicht nach." Eher sei es so, dass viele einen neuen Sehnsuchtsort haben: die Türkei. "Das müssen Sie sich vorstellen. Vierzig Prozent der 25-bis 40-Jährigen können sich vorstellen, in die Türkei zu gehen, obwohl sie das Land kaum kennen." Es seien vor allem die gut Ausgebildeten, die es gen Istanbul oder Ankara zieht.
Mit Nostalgie hat das nichts zu tun. Keine Vergangenheitsverklärung aus Unsicherheit vor der Zukunft ist hier am Werke, sondern die Hoffnung auf eine bessere Zukunft an anderem Ort.
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