: Der Urwald um die Ecke
■ Lothar Baumgarten erhielt gestern den Lichtwark-Preis
Tupinamba, Xavante, Aharaibu: Schon die bloße Nennung der komplexen indianischen Namen kann in Europa merkwürdige Reflexe auslösen: Die Kultur derjenigen, die man zumindest indirekt mit ausrottet, erscheint gleichzeitig im teils mythischen, teils ökologischen Glanz des guten Wilden. Der deutsche Künstler Lothar Baumgarten widmet den größten Teil seiner Arbeit dem Verhältnis von Abendland und „Anderem“. Zur documenta 7 hatte er die Namen von Amazonasindianern in die Kuppel des Fridericianums eingeschrieben wie in einen Ehrentempel. Der Künstler, der in Düsseldorf und New York lebt, wenn er nicht gerade monatelang im Dschungel ist, untersucht seit mehr als 25 Jahren auf Reisen, in Installationen, Inschriften, Büchern, Photoserien und Filmen, wie sich Kulturen begegnen können, ohne sich gegenseitig ihre Integrität zu zerstören.
Gestern abend erhielt der 53-jährige in der Hamburger Kunsthalle den mit 30.000 Mark dotierten Lichtwark-Preis. Die nur alle vier Jahre vergebene höchste Hamburger Kunst-Auszeichnung wird an Künstler vergeben, deren Werk „der bildenden Kunst unserer Zeit neue Aspekte hinzugewinnt“(wie 1964 Max Ernst oder 1979 Joseph Beuys). Zwei Drittel des Geldes gehen an den viermaligen documenta-Teilnehmer Baumgarten (documenta 5, 7, IX und X), ein Drittel davon geht als Stipendium an die Kunsthochschul-Studentin Pia Greschner, die sich in ihrer Arbeit mit Geschlechter-, Medien und Identitätsproblemen befaßt.
Der Beuys-Schüler Lothar Baumgarten ist ein künstlerischer Moralist, der dem Wesen des „Fremden“nachspürt. Er zeigt, wie das Fremde noch in fernen Kontinenten durch europäisch veränderte Namensgebung domestiziert wird, findet aber auch den Urwald gleich um die Ecke: Seinen Film Der Ursprung der Nacht über einen Tuyi-Mythos konnte er komplett in den Wäldern der Rheinauen drehen. Seine Beschwörung genauer Wörter und geklärter Begriffe findet nicht nur im vermeintlich Exotischen statt: Zur documenta IX grüßten 1992 vom Kasseler Zwehrenturm solche jenseits ihres Zusammenhangs eine reichlich seltsame Realität aufscheinen lassende Worte wie „Bauernopfer“, „Vollperson“, „Wendehammer“, „Mülldiät“, „Irrtumsrecht“und „Kopfkorrektur“ . Hajo Schiff
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