■ Der Überläufer aus Nordkorea stellt China auf die Probe: In Asien werden die Weichen gestellt
Seit der Taiwan-Krise vor einem Jahr hat kein Ereignis solche politische Aufregung in Ostasien ausgelöst wie das überraschende Asylgesuch des nordkoreanischen „Chefideologen“ Hwang Jang Yop in der südkoreanischen Botschaft in Peking. Die nervöse Propaganda in beiden Koreas, das hektische Einschreiten der chinesischen Sicherheitskräfte vor der südkoreanischen Botschaft und die harschen, auf eine schnelle Überführung Hwangs bedachten Reaktionen in Tokio und Washington – all das deutete in den vergangenen Tagen darauf hin, wieviel auf dem Spiel steht, wenn der Thron des Kim-Regimes in Pjöngjang wackelt. Geht es doch um nichts Geringeres als die weltpolitische Machtbalance im kommenden Jahrhundert, da wieder – wie im Fall Taiwans – der Vormachtstreit zwischen Amerika und China droht. Denn auf wessen Seite das abgewirtschaftete Nord- Korea fällt, entscheidet darüber, ob amerikanische Soldaten eines Tages von Seoul bis an die chinesische Grenze vorrücken können.
Ihr Dilemma haben die Regierenden in Peking längst erkannt: Jede Hilfe für das seit dem Koreakrieg mit China verbündete Nord-Korea kann nach einem Sturz der Kim-Diktatur den chinesischen Einfluß auf der Koreanischen Halbinsel für lange Zeit diskreditieren. Deshalb versucht Peking heute die Annäherung an Seoul. Seit 1992 hat sich das Handelsvolumen zwischen China und Süd-Korea vervierfacht und umfaßt heute das Vierzigfache des chinesischen Handels mit Nord-Korea. Wie weit das neue Bündnis zwischen Peking und Seoul auch politisch trägt, muß sich jetzt erweisen: Der Dissident Hwang stellt es auf die Probe. Allerdings ist zu erwarten, daß die chinesische Führung dem Asylgesuch Hwangs stattgibt oder ihn in ein drittes Land ausreisen läßt. Zu schwach erscheint den Mandarinen der nordkoreanische Verbündete.
Darin liegt auch die Botschaft Hwangs: Kim Jong Il, der erst in diesem Jahr das Erbe seines 1994 verstorbenen Vaters antreten will, wirkt politisch angeschlagen. Immerhin hatte Hwang noch vor zwei Wochen genug Rückhalt in der nordkoreanischen Führung, um als Emissär nach Tokio entsandt zu werden. Die Aufregung um den ersten namhaften Kim-Dissidenten ist also berechtigt. Mit Hwang hat das aller Welt entrückte Nord-Korea obendrein ein zweites, menschlicheres Antlitz bekommen. Gerog Blume
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