piwik no script img

Der Turm von HadlowExzentrische Narretei

Gotische Träume im südostenglischen Hadlow: Ein mit öffentlichen Geldern finanziertes Ferienluxusobjekt wird nun im Internet verlost.

Private Property, Privatbesitz: der Turm von Hadlow Foto: Granville Davies/Loop Images

Den Engländern sagt man gerne eine gewisse Exzentrizität nach. Das ist die Art liebenswürdige Verschrobenheit, von der in der Regel keine große Gefahr ausgeht. Exzentriker setzen sich gerne ungefragt ein öffentliches Denkmal, zumindest in England, das gepflastert ist mit steinernen oder sonstigen Merkwürdigkeiten, entsprungen den Hirnen der „Seltsamen“, über die im Ort getuschelt wurde. Um die sich Legenden rankten, geboren aus der Not, nicht den richtigen Umgang mit ihnen zu finden.

Südostengland, Grafschaft Kent, in der Nähe der Kleinstadt Tonbridge. Ahnungslos fährt man die A 26 entlang, freut sich an der idyllischen Landschaft, während einem das ungewohnte English Breakfast immer noch bleischwer im Magen liegt und man darüber sinniert, was eigentlich „Schnaps“ auf Englisch heißt.

In der Ferne erblickt der Reisende auf einmal einen seltsamen Turm. Der kleine Ort Hadlow rückt näher, man will eigentlich nur durchfahren, dann erschrickt man, weil plötzlich ein dunkles gotisches Eingangs­etwas erscheint, mit dem niemand gerechnet hat. Bestimmt ist diese steinerne Vision der Anfang eines Albtraums, der möglicherweise in Transsylvanien oder sonst wo unter Untoten endet. Man steigt dann doch zögerlich, aber durchaus interessiert aus, umrundet das Areal und stellt fest: Da ist nur dieser Turm, aber keine Burg dazu. Und außerdem darf man das Grundstück gar nicht betreten: Private Property, Privatbesitz. Was soll das?

Walter Barton May (1783–1855) hieß der Exzentriker, der diesen Turm ersponnen hat und seine Vision 1852 vollständig in die Tat umsetzte. Da stand Hadlow Castle aber schon lange, sein Vater (1747–1823) hatte es 1790 auf dem Gelände des ehemaligen Hadlow Court Lodge bauen lassen.

Völlig eigennützig und ziemlich sinnlos war Walter May’s neuer Turmbau, denn seine Herzensdame, die 18 Jahre jüngere Mary Susannah, geb. Porter, war in Gedanken schon lange fort bei einem anderen. Und deswegen hatte Walter den seltsamen Turm überhaupt erst gebaut, um immer sehen zu können, was seine Liebste eigentlich so in seiner Abwesenheit anstellt, und vor allem, mit wem. Möglichst bis an die Küste, was natürlich so nicht funktionieren konnte.

Die Frau war schließlich weg, der wenig dezente Turm aber immer noch da und hatte es sich in den steinernen Kopf gesetzt, bis heute nicht mehr zu weichen trotz aller Widrigkeiten, die sich ihm im Laufe seines einsamen Daseins in den Weg stellen sollten. Vier Jahre nach dem Turmbau starb Walter Barton May vermutlich aus Gram über seine untreue Ehefrau. Ein Mahnmal, ein Denkmal, vielleicht auch ein Symbol für den biblischen Sündenpfuhl Babel: May’s Folly (Mays „Narretei“) tauften die verstörten Hadlowianer den seltsamen Turm, der Hadlow Castle nicht unbedingt komplettierte, sondern es besonders machte, exzen­trisch eben.

Turm ohne Krone

Völlig eigennützig und ziemlich sinnlos war Walter May’s neuer Turmbau, damals 1852

Das Herrenhaus, etwas großspurig Hadlow Castle, also Burg von Hadlow, genannt, verfiel im Laufe der Zeit nach etlichen Besitzerwechseln und wurde 1951 bis auf das Eingangstor, das Bedienstetengebäude und den Stallhof abgerissen. Und eben bis auf den Turm, doch warum, wusste eigentlich niemand so genau. War es Aberglaube, die Angst vor der Rache des seligen, aber immer noch aus dem Jenseits besitzergreifenden Walter May?

Viele Jahre später, 1987, wütete in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober ein heftiger Sturm in der Grafschaft Kent. In Hadlow regnete es Steine vom Turm, benommen taumelte er für einen kurzen Moment, fiel aber nicht um, sondern verlor seine Krone. Das Inferno war schließlich vorbei, der Turm hatte überlebt, und war da nicht ein diabolisch-höhnisches Lachen tief aus seinem Inneren zu hören? Aus Sicherheitsgründen und weil ihn sonst keiner haben wollte, musste ihn die Bezirksgemeinde von Tonbridge & Malling 2011 gezwungenermaßen für 1 Pfund dem Vivat Trust überlassen.

Der laborierte ein paar Jahre an ihm herum, konnte auch Gelder aus Spenden akquirieren, ihn schließlich kunstfertig restaurieren und dann zur höchsten Folly ganz Englands machen. Doch das Glück war nur von kurzer Dauer, der Turm für seine architektonisch äußerst gelungene Restaurierung zwar hoch gelobt und auch seine Krone wieder da, Vivat Trust aber war irgendwann Geschichte.

Der Sturm der Zeit

2017 wurde der eigenwillige und stoische Turm für 425.000 Pfund an einen Londoner Banker veräußert, der daraus mithilfe auch öffentlicher Fördergelder Ferienluxus­objekte machte. Das war zwar äußerst gerissen, aber nicht mehr exzentrisch, sondern nur noch dekadent: Wer einmal als Turmfräulein Rapunzel auf den Spuren von Walter May wandeln wollte, musste für eine Woche Aufenthalt 3.135 Pfund (umgerechnet 3.578 Euro) bezahlen. Es war wohl ein Verlustgeschäft, denn der bescheidene Banker wollte den Turm nur ein Jahr später für moderate 2 Millionen Pfund wieder verkaufen.

Ein Sturm der Entrüstung brach los, nicht nur wegen des horrenden Verkaufspreises, sondern weil der Mann sich 2018 nicht an die Abmachung gehalten hatte, den Turm an 28 Tagen im Jahr für Besichtigungen nicht zuletzt auch denjenigen zu öffnen, die das Ganze schließlich mitfinanziert hatten. Daraufhin zog er das Verkaufsangebot beim Makler wieder zurück. Aktuell soll ein angeblich seriöses Glücksspiel, bei dem man bis zum 3. Juni 2019 den Turm mit einem Los zum Preis von 4,50 Pfund gewinnen kann, das ganze finan­zielle Desaster des armen Bankers wieder richten. Als „Trostpreis“ locken zweitägige 2.000 Pfund schwere Aufenthalte in dem Turm. Der denkt sich lieber sein Teil, streckt seine 52 Meter in den Himmel, schweigt und mahnt wie immer. Auch diesen Sturm der Zeit wird er überstehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!