: Der Tanz ums Tabu
Der Kanzler hat die Bürgerversicherung entdeckt, die CDU will die Kopfpauschale. Angeblich eine „Richtungsentscheidung“. Doch die Lösung heißt Steuerfinanzierung
Ein Wort taucht auf, taucht ab, taucht wieder auf: die Bürgerversicherung. Ein toller Begriff für jeden rot-grünen Wahlkampf. Alle Bürger sind sicher.
Also ist selbst der Kanzler inzwischen irgendwie für eine Bürgerversicherung, obwohl er es ja eigentlich ein bisschen zu radikal findet, die Krankenkassen zu einer Art Volksversicherung umzubauen. Da irrt er aber: Das Konzept ist längst nicht radikal genug. Wer es zu Ende denkt, muss fordern, die Krankenkosten künftig aus Steuermitteln zu finanzieren.
Und noch ein zweiter Irrtum wird hingebungsvoll gepflegt: Angeblich stehen die Bürger vor einer dramatischen Alternative. Wollen sie die Bürgerversicherung, in die alle nach ihrer Leistungsfähigkeit einzahlen? Dann könnten sich Beamte, Selbstständige und Gutverdiener nicht mehr in die privaten Krankenkassen verdrücken. Zudem würden auch Mieten, Zinsen und sonstige Kapitaleinkünfte belastet. Oder will man wie die CDU eine „Kopfpauschale“? Dann würden alle Erwachsenen einen Fixbetrag von etwa 210 Euro monatlich beisteuern. Zugespitzt: Soll der Chef nur so viel zahlen wie die Sekretärin?
An dieser Stilisierung zur „Richtungsentscheidung“ ist Rot-Grün so interessiert wie die Union, denn die Unterschiede zwischen den Parteien sind gering. Dies soll vor allem vor Wahlen kaschiert werden.
Im Kern geht es bei beiden Modellen um drei Begriffe: Lohnabhängigkeit, Solidarität und Wettbewerb. So gesehen wirken viele Diskussionen wie Scheindebatten, um eine Tabufrage zu umgehen: Wie wäre es mit einer Steuerfinanzierung der Krankenkosten?
Lohnabhängigkeit: Bisher werden die Beiträge zur gesetzlichen Krankenkasse paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebracht, doch der Anteil der Erwerbseinkommen am gesamten Volkseinkommen sinkt, während Kapitaleinkünfte wichtiger werden. Die Beiträge und Lohnnebenkosten steigen ständig – obwohl der Anteil der Kassenausgaben am Bruttosozialprodukt gar nicht zunimmt. Diese Analyse ist so unstrittig wie die Konsequenz: Irgendwie müssen auch die anderen Einkunftsarten genutzt werden, um Geld in die Krankenkassen zu spülen. Die Modelle unterscheiden sich nur in ihren Methoden.
Bei der Bürgerversicherung bleibt es bei der paritätischen Finanzierung der Krankenkassen, aber zusätzlich werden auch Kapitaleinkommen und Mieteinkünfte berücksichtigt. Allerdings nur bis zu einer maximalen Einkommenshöhe von insgesamt 5.100 Euro. Dadurch soll der lohnabhängige Beitrag für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sinken. Bei der Kopfpauschale hingegen ist es zunächst einmal völlig egal, woher die Versicherten das Geld nehmen, um ihre Prämie von 210 Euro aufzubringen. Vermögenseinkünfte werden also automatisch einbezogen. Arbeitnehmer bekämen künftig den bisherigen Krankenkassenanteil ihres Arbeitgebers ausgezahlt, um davon einen Teil ihrer Prämie zu bestreiten. Diese Lösung hat ironische Folgen: Offiziell behaupten die Kopfpauschalisten, sie würden die Beiträge zur Krankenkasse radikal vom Erwerbseinkommen entkoppeln. Tatsächlich halten sie die Beiträge für Arbeitgeber zunächst konstant, während sie bei Bürgerversicherung sofort abnehmen. So wichtig scheinen die Lohnnebenkosten für die Kopfpauschalisten also doch nicht zu sein. Und wenn sie ihnen wichtig wären, dann gäbe es auch eine andere Möglichkeit, den Arbeitgeberanteil einzufrieren: die komplette Steuerfinanzierung. Dann wären sie das Problem der Lohnnebenkosten auch los.
Die eigentliche Frage lautet sowieso: Wer kommt für die Krankheitskosten der Armen, Arbeitslosen und Rentner auf? Nur die Gruppe der Arbeitnehmer – oder auch Kapitalbesitzer, die über Vermögenseinkünfte verfügen? Das führt zum zweiten Stichwort
Solidarität: Die Kopfpauschalisten wollen die Unterstützung der Armen komplett aus dem System der Krankenkassen entfernen. Wer sich die 210 Euro nicht leisten kann, soll einen Steuerzuschuss erhalten. Der bürokratische Aufwand dürfte enorm sein, um jährlich die Einkommens- und Vermögensverhältnisse aller Nicht- und Geringverdiener zu erheben. Die Kopfpauschale ist keineswegs staatsfern. Das gilt für die Bürgerversicherung ebenso, die neben den klassischen Beiträgen künftig auch Zinsen, Mieten und andere Kapitaleinkünfte heranziehen will. Damit wird die Bürgerversicherung faktisch zur Steuer. Bei beiden Modellen stellt sich die Frage: Was soll dieser immense Aufwand? Warum stellt man nicht einfach auf die komplette Finanzierung durch Einkommen- und Ertragsteuern um? Damit stößt man auf das dritte Stichwort
Wettbewerb: Die gängige Annahme lautet, dass Krankenkassen hart konkurrieren müssen, damit das Gesundheitssystem effizienter wird. Deswegen dürften sie nicht zentral vom Staat finanziert werden. Doch die Liebe zum Wettbewerb währt stets nur so lange, wie dies zur eigenen Theorie passt. So wollen die Kopfpauschalisten die Prämie nur in der gesetzlichen Krankenkasse einführen – die Privatversicherungen dürften sich weiterhin auf den gesünderen Gutverdiener konzentrieren. Sie wären nicht konkurrenzfähig, wenn sie auch Risikogruppen zu Pauschalen versichern müssten. Die Bürgerversicherung wiederum würde den Risikostrukturausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen aufblähen, der schon jetzt die Konkurrenz zwischen den Kassen stark begrenzt.
Doch abgesehen von diesen Selbstwidersprüchen in den Konzepten: Die Konkurrenz fehlt sowieso nicht bei den Kassen, sondern bei den Anbietern. Die Ärzte sind kartellartig organisiert, gleichzeitig beeinflussen unzählige Gesetze die Preise von Pharmakonzernen, Kliniken und Medizinern. Es gibt gar keinen Gesundheits„markt“ bei medizinischen Standardleistungen, sodass der künstlich organisierte Wettbewerb zwischen den Kassen fast folgenlos bleibt. Zudem wird fast immer übersehen: Konkurrenz kostet auch Geld. Jede Krankenkasse hat ihre eigene Verwaltung, Werbeabteilung und Software … Diese gigantischen Apparate wirken sehr ineffizient angesichts der geringen Effizienzgewinne, die sie eventuell organisieren können.
Bürgerversicherung und Kopfpauschale sind beide immens bürokratisch und haben mit Wettbewerb fast nicht zu tun. Nur bei der „Verteilungswirkung“ können sie sich unterscheiden. Die Bürgerversicherung würde vor allem allein stehende Versicherte belasten, die über ein Jahreseinkommen von mehr als 35.000 Euro verfügen. Bei der Kopfpauschale hingegen würden alle Gutverdiener ab 42.000 Euro entlastet. Aber für die Aktion Umverteilung braucht man keine aufwändigen Kassensysteme. Das geht bestens mit Steuerreformen. Die würden die Bürger sofort begreifen und könnten dann kundig darüber abstimmen, was sie nun wollen – mehr Solidarität oder nicht. In einer Demokratie dürfen lebenswichtige Servicesysteme nicht so kompliziert werden, dass sie nur noch Experten verstehen. ULRIKE HERRMANN