Der Spitzenkandidat der Piratenpartei: "Mir ist egal, neben wem ich sitze"
Die Piraten haben eine reale Chance, ins Abgeordnetenhaus einzuziehen. Spitzenkandidat Andreas Baum über Transparenz, inhaltliche Defizite und Fahren ohne Fahrschein. Ein Interview zum Lesen und zum Hören.
taz: Die erste Umfrage sieht die Piratenpartei bei 5 Prozent. Herr Baum, Sie sind einer von denen, die dann ins Abgeordnetenhaus kämen. Was würden Sie dort als Erstes machen?
Andreas Baum: Das Erste wird natürlich sein, sich mit den organisatorischen Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Wir haben niemanden dabei, der das schon gemacht hat und uns an die Hand nehmen könnte. Gleichzeitig ermöglicht es uns, erste Einblicke zu gewinnen in das für uns sehr wichtige Thema Transparenz.
Wie viel Zeit geben Sie sich da?
In Tagen? Ich weiß jetzt nicht, wie lange das alles dauert mit der Konstituierung und so. Aber in den ersten Sitzungen wird man von den Piraten was hören. Es wird keine Schonfrist geben, in der wir uns zur Ruhe setzen.
Der Spitzenkandidat der Piratenpartei ist 1978 geboren und arbeitet im Kundenservice für einen Netzbetreiber.
Der Listenneunte Fabio Reinhardt hat vor einiger Zeit über Koalitionsverhandlungen spekuliert. Spielt das eine Rolle?
Das ganze, rund einstündige taz-Interview mit Andreas Baum können Sie auch als Audiodatei anhören. Den ersten Teil finden sie hier als mp3-Datei, den zweiten Teil hier. Das Interview ist ungeschnitten und erscheint hier nur in zwei Teilen, weil während des Gesprächs unser Aufnahmegerät kurz aussetzte.
Interviews mit Politikern werden immer aufgezeichnet. Dann werden sie von den Journalisten in eine lesbare Schriftform gebracht, die auch den Platzverhältnissen einer Zeitung entspicht. Die meisten Interviewten bestehen darauf, diese Schriftform noch autorisieren zu dürfen. Das ist nicht verwerflich, so lange es nur darum geht, dass die getätigten Aussagen auch richtig wiedergegeben werden. Viele Befragte nutzen diese um im nachhinein ihre Antworten noch deutlich aufzupeppen, vergessene Inhalte zu ergänzen, kritisch wirkende Aussagen zu entschärfen oder ganz zu streichen.
Auch die Schriftform dieses Interviews wurde Andreas Baum zur Autorisierung vorgelegt, bevor wir sie veröffentlicht haben. Die taz hatte Andreas Baum am Ende des Gesprächs allerdings auch gefragt, ob er als Zeichen für die von seiner Partei geforderte Transparenz damit einverstanden wäre, zusätzlich das ganze Tondokument im Netz zu veröffentlichten. Er stimmte spontan zu. Ein durchaus ungewöhnlicher Vorgang, der es den Lesern - und Hörern - von taz.de nun erlaubt, den Entstehungsprozess eines Politikerinterviews nachzuvollziehen.
Und da uns sachkundige Experten verraten haben, dass für Piraten, die was auf sich halten, mp3 vollkommen unakzeptabel ist, gibt es die beiden Audiostücke hier und hier auch noch im ogg-Format.
Derzeit nicht. Zumal wir ja noch gar nicht wissen, wie das Wahlergebnis aussehen wird. Wobei wir naturgemäß einigen Parteien näher stehen als anderen.
Welchen?
Bei der CDU erschienen uns eventuelle Koalitionsverhandlungen am schwersten. Einfacher wäre es sicher mit SPD, Grünen und Linken.
Wäre eine Regierungsbeteiligung überhaupt das Ziel?
Es ist nichts, was wir konkret anstreben. Uns ist wichtig, dass wir mit den Themen, mit denen wir antreten, im Parlament vertreten sind. Es ist aber auch nichts, wo wir sagen würden: Das kommt unter keinen Umständen in Frage. Aber ich persönlich halte es nicht für realistisch.
Sieht sich die Piratenpartei noch als Partei der Bürgerrechtler und Netzaktivisten?
Das sind Themen, die uns weiterhin beschäftigen. In Berlin sind die Handlungsspielräume natürlich begrenzt, viel muss auf Bundesebene entschieden werden.
Auf die Bundesebene zu verweisen ist bequem. Was lässt sich denn in Berlin ändern?
Ein großes Thema hier ist Mobilität. Wir wollen, dass die S-Bahn von einem landeseigenen Unternehmen betrieben wird. Ein Ziel ist auch der fahrscheinlose Verkehr. Da gibt es haufenweise Einsparmöglichkeiten. Man braucht keine Fahrscheinautomaten, keine Kontrollen und keine Strafverfahren für Schwarzfahrer. Allein beim letzten Posten könnte man 30 Millionen Euro sparen.
Das reicht aber lange nicht, um all das gegenzufinanzieren, was im Wahlprogramm steht.
Das ist richtig. Wenn man aber mal probiert durchzurechnen, was bestimmte Sachen kosten würden, dann stößt man schnell an Grenzen. Um bei der S-Bahn zu bleiben: Hier können wir den Vertrag zwischen der S-Bahn und dem Land nicht einsehen, uns fehlen also schlichtweg Zahlen. Ähnlich ist es mit unserer Forderung nach einer Klassengröße von 15 Schülern, wofür man mehr Lehrer braucht. In Schulen gibt es immer kleinere Posten, wo man sparen kann - beispielsweise bei der Software der Schulrechner. Wenn wir da Genaueres wissen, müssen wir gegenrechnen und schauen, wie weit wir unsere Ziele umsetzen können.
Angesichts der Haushaltslage ist es doch so: Wer sich entscheidet, eine Sache zu finanzieren, zieht bei einer anderen Geld ab. Welche Lösung haben Sie da?
Man muss das klar kommunizieren. Wenn man sagt: Wenn ihr für die eine Sache seid, wird das so oder so viel kosten und auf diese Art und Weise finanziert werden. Dann können die Wähler entscheiden, ob sie das möchten oder nicht. Oder sie sagen - und da sind wir einzigartig - sie haben einen viel besseren Vorschlag. Macht das doch so und so.
Also ist Bürgerbeteiligung vor allem Kommunikation?
Zunächst mal muss es Angebote geben, wo die Bürger informiert werden, und zwar einfacher als bisher. Und es muss Möglichkeiten geben, dass sie dazu eine verbindliche Meinung abgeben.
Das führt aber auch zu ziemlichem Aufwand für die Wähler.
Die Beteiligung soll ein Angebot sein, keine Pflicht. Es wäre illusorisch zu glauben, dass jeder Berliner ganz heiß ist, sich zu beteiligen. Aber er muss die Möglichkeit haben. Dass man alle fünf Jahre mal seine Stimme abgeben darf, ist einfach nicht mehr zeitgemäß, dafür sind die Probleme mittlerweile zu komplex.
Intern setzt Ihre Partei für Entscheidungsfindungen auf ein elektronisches Verfahren. Wie soll das für alle Berliner funktionieren, schließlich hat nicht jeder einen Computer?
Es hat auch nicht jeder Pirat einen Computer. Aber es gibt Möglichkeiten, zum Beispiel in Bibliotheken Computer zu nutzen. Aber es muss auch nicht alles digital funktionieren. In den USA gibt es die Möglichkeit, dass ältere Menschen über Faxgeräte mit ihren Enkeln über Facebook oder Twitter kommunizieren.
Es gibt im Wahlprogramm noch schwarze Löcher. Zu Umweltpolitik etwa steht gar nichts drin. Da muss der Wähler die Katze im Sack kaufen.
Natürlich gibt es noch Defizite. Das liegt daran, dass wir uns konkret mit den Sachen auseinandersetzen wollen.
Wie soll denn so ein Defizit behoben werden, wenn es die Piratenpartei ins Abgeordnetenhaus schafft und eine Abstimmung ansteht?
Wir können über unser parteiinternes Abstimmungssystem schnell Meinungen der Mitglieder einholen. Wenn es also zur Diskussion kommt und wir eine Antwort liefern müssen, dann werden wir dazu in der Lage sein.
Wo sehen Sie die größten Defizite?
Umweltthemen sind sicher eines davon. Auch die wirtschafts- und finanzpolitischen Themen werden noch eine große Herausforderung sein.
Im Wahlprogramm fordert die Piratenpartei unter anderem das Studieren ohne Regelstudienzeit, die Abschaffung der Residenzpflicht und des Vermummungsverbots auf Demos. Klingt ein bisschen wie ein linksalternativer Wunschzettel.
Ich denke, das hängt ganz stark mit unserem Weltbild zusammen. Wir glauben, dass Menschen grundsätzlich gut sind. Wenn man zum Beispiel diese ganze Drangsalierung im Hartz-IV-Bereich abschaffen würde, dann würde man auch von den Betroffenen ein ganz anderes Vertrauen zurückbekommen.
Ist die Piratenpartei links?
Früher haben wir immer gesagt, wir sind weder links noch rechts, sondern vorne. Ich glaube, wir sind nicht so einfach zu verorten, weil uns einfach die Traditionen fehlen,die es im linken Bereich sonst so gibt. Wir müssen Fidel Castro keinen Brief schicken. Wir können Themen ohne Vorbelastung angehen.
Das Links-rechts-Schema hat ja mit der Sitzordnung im Parlament zu tun. Wo sähen Sie sich da?
Keinen Schimmer. Wirklich gar nicht. Ist mir ehrlich gesagt auch total egal, neben wem ich sitze.
Was, glauben Sie, können Sie in fünf Jahren verändern?
Ich glaube, dass allein durch unser Auftauchen die anderen Parteien aus dem Knick kommen. Genau wie bei der Bundestagswahl die CSU auf einmal Netzpolitik gemacht hat. Das wäre vorher gar nicht vorstellbar gewesen. Aber durch uns merken die einfach, dass es Leute gibt, denen das Thema wichtig ist. Am meisten werden wir aber, denke ich, mit dem Thema Transparenz erreichen können. Ich denke, dass zum Beispiel so etwas wie die Wasserverträge nicht mehr abgeschlossen wird, wenn die Piraten im Abgeordnetenhaus sind.
Das würde es vermutlich auch sonst nicht.
Na ja, dass der Senat Verträge abschließt, die geheim sind, das wird vermutlich ohne die Piraten schon noch passieren.
Wenn die anderen Parteien die Themen der Piratenpartei aufnehmen, könnte die Partei überflüssig werden.
Ja, es kann sein, dass die Piraten in 50 Jahren überflüssig sind.
Würde Sie das freuen?
Ja, ich denke, da wäre ich schon froh. Die meisten von uns sind ja auch nicht mit dem Ziel zu uns gekommen, Politiker zu werden. Sondern sie hatten ein Anliegen und haben einfach kein adäquates Angebot in der Parteienlandschaft gefunden. Und haben sich dann gesagt: Dann müssen wir es eben selbst machen.
Woher kommen denn die potenziellen Piratenwähler?
Ein großer Teil kommt von den Nichtwählern, glaube ich. Dann gibt es einen großen Anteil von Grünen- und Linken-Wählern, die taktische Überlegungen hegen. Das finde ich aber schwierig.
Warum?
Weil ich glaube, dass man nicht taktisch wählen sollte. Ich bin der Meinung, man sollte die Partei wählen, deren Programm man am ehesten haben will.
Das Abgeordnetenhaus ist ein Teilzeitparlament, es gibt aber Abgeordnete, die widmen sich Vollzeit ihrem Mandat. Wo sehen Sie sich?
Ich wäre bereit, mich Vollzeit einzubringen. Das hängt aber von denen ab, die mit mir im Parlament sitzen. Es gibt sicher auch welche, die ihre berufliche Laufbahn nicht unterbrechen wollen.
Es gab immer mal wieder kleine Parteien, die es gerade so ins Abgeordnetenhaus geschafft und sich dann selbst zerlegt haben. Beugen Sie dem vor?
Das Spannungsfeld zwischen Fraktion und Partei, das entsteht, ist für uns dann neu. Wir werden uns fragen müssen, wen der Parlamentarier vertritt: die Parteimitglieder oder die Wähler.
Oder sich selbst.
Ich glaube, das ginge bei den Piraten schlechter als bei anderen.
Warum?
Weil bei uns sowohl die Parteifreunde als auch die Wähler eine große Transparenz erwarten.
Ist diese permanente Transparenz nicht auch anstrengend?
Ja, auch. Aber auch einfacher. Ich habe etwa überlegt, was von mir im Wahlkampf transparent sein muss. Und mich erst mal gegen einen öffentlichen Terminkalender entschieden. Ich dachte, das muss nicht jeder wissen. Irgendwann waren dann aber die Absprachen so kompliziert, dass ich gesagt habe, ich mache das doch öffentlich. Private Termine stehen nicht drin. Man muss einfach Grenzen ziehen. Was vom Steuerzahler finanziert wird oder politische Arbeit betrifft, sollte öffentlich sein.
Wenn wir den Mitschnitt dieses Interviews online stellen, wäre das also noch in den Grenzen?
Ja, na klar.
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