■ Der Soziologe Pierre Bourdieu über die historischen Traditionen und die möglichen Folgen der Erwerbslosenbewegung in Frankreich: Eine unwahrscheinliche Bewegung
taz: Die Erwerbslosigkeit steigt seit über 15 Jahren in Frankreich. Warum ist es erst jetzt zu einer sozialen Bewegung gekommen?
Pierre Bourdieu: Bis sich Bewußtsein formt, ist Zeit nötig. Das vergißt man oft. Das gilt für alle Bereiche. Auch für die Bildung. Der Prozeß der Entwertung der Diplome hat in den 60er Jahren begonnen, aber es hat bis in die 70er Jahre gedauert, bis die Leute das verstanden haben. Die Soziologen wissen diese Dinge im voraus, früher als die Betroffenen. Wer sie sagt, dem entgegnet man: Sie sind Pessimist. Das geht mir mein ganzes Leben lang so.
Hat die Entstehung der Erwerbslosenbewegung Sie überrascht?
Ja und nein. Ich kenne die Leute, die schon lange daran arbeiten und die diese Bewegung organisiert haben. Aber ich dachte, sie würden es nicht schaffen. Die Erwerbslosen sind eine besondere Kategorie. Man weiß, daß sie am schwersten zu mobilisieren sind. Erwerbslosigkeit demoralisiert. Im Gegensatz zu der Ansicht von simplistischen Marxisten provoziert extreme Unterdrückung keine Revolte. Die Leute sind gebrochen. Das Erstaunliche ist also, daß so eine Bewegung auf die Bühne trat, obwohl sie unwahrscheinlich war.
War bei einer bestimmten Höhe von Erwerbslosigkeit einfach das Maß voll?
Damit die Bewegung entstehen konnte, war es nötig, daß das Phänomen sehr viele betrifft. Immer mehr Leute sind in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Auch bei den Intellektuellen. Die sind solidarisch mit den Erwerbslosen.
Die Erwerbslosenstatistiken in Deutschland und Frankreich sind ähnlich. Warum kommt es trotzdem in Deutschland nicht zu einer derartigen Initiative?
Ich glaube, das hat historische Gründe. Das ist die französische Tradition des anarchistischen, libertären Sozialismus, der einmal sehr stark war und vom zentralistischen und marxistischen Sozialismus eine Zeitlang erdrückt oder zumindest verdeckt worden ist. Das Originelle an der französischen Ausnahme ist, daß diese Tradition, die vom Rand des sozialen Christentums bis zur Anarchie reicht, sehr weit zurückgeht. Wenn Sie ein bißchen in den Biographien graben, werden Sie Vorfahren finden, die in der Pariser Commune waren. Mein Urgroßvater hat damals Ratten gegessen. Das habe ich in meiner Kindheit gehört.
Welche Rolle spielt die geplante Einführung des Euro?
Die Leute, die die Erwerbslosenbewegung organisiert haben, sind sich bewußt, daß sie gegen ein rein ökonomisch organisiertes Europa kämpfen. Leider versuchen jetzt die KPF und Chevènements „Bürgerbewegung“ (MDC) das zu vereinnahmen.
Wirkt die Erwerbslosenbewegung auch außerhalb der Wirtschaftspolitik?
Jede soziale Bewegung in Europa ist wichtig für die Menschheit. Ohne soziale Bewegung wird die Kultur verschwinden. Und zwar brutal. Es wird kein Kino und keine Avantgardeliteratur mehr geben.
Es scheint, als stünde Frankreich an einem Scheideweg. Zwischen Etatismus und Liberalismus. Zwischen Protektionismus und Globalisierung.
So reden die Essayisten und die Journalisten. Ich würde sagen: Die Franzosen sind mehrheitlich proeuropäisch. Nicht unbedingt pro Euro. Aber sie wollen nicht dieses Europa ohne irgendeine soziale Disposition. Ein Europa, das nichts über die Schulsysteme und nichts über die Gewerkschaften sagt, das das Arbeitsrecht und die Mindestlöhne ausgrenzt. Dieses Europa ist aufgezwungen, ist eine Maske, die den Neoliberalismus kaschieren soll. Und den amerikanischen Imperialismus dazu.
Aus den USA und aus Großbritannien kommen viele Experten, die sagen, bei ihnen gäbe es weniger Erwerbslosigkeit.
Das ist falsch. Es gibt eine Reihe von Mythologien, die solange wiederholt werden, bis man sie glaubt. Bei den Briten lebt die Hälfte der Bevölkerung in unsicheren Arbeitsverhältnissen. Mit den Statistiken, die wir augenblicklich haben, ist es unmöglich, die Erwerbslosigkeit in Frankreich mit der in Großbritannien und den USA zu vergleichen. Die Zählweisen sind völlig unterschiedlich. Der Unterschied zwischen unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und Erwerbslosigkeit ist auch eine Frage der Definition. Wer in Frankreich erwerbslos genannt wird, ist in Großbritannien berufstätig, obwohl er nur einen Gelegenheitsjob hat.
Was raten Sie der französischen Regierung?
Das ist nicht mein Beruf. Ich glaube, daß man nicht weitermachen kann, als ob das soziale Problem nicht existiere. Man kann nicht eine Gesellschaft auf ausschließlich ökonomischer Basis aufbauen und mit extrem engen Kriterien arbeiten. Es gibt Krankenhäuser, Schulen, Selbstmorde, Arbeitsunfälle – all das gehört zur Wirtschaft.
Aber es heißt, es gäbe kein Geld.
Das Problem ist die Einhaltung der drei Prozent von Maastricht. Es ist zum Verzweifeln. Gegenwärtig sind alle in der Problematik der dominanten Ideologie gefangen. Wir leben in einem Universum von Glauben. Man glaubt, statt die Wirtschaft zu erklären. Das ist wie die Theologie.
Warum mischen sich so wenige Intellektuelle in die sozialen Bewegungen ein?
Weil sie reden, aber die soziale Wirklichkeit nicht kennen. Bernard Henry Levy oder Régis Debray haben nicht die geringste Ahnung von dem Problem. Sie reden lieber mit Journalisten.
Sehen Sie Ansätze für eine europäische Gewerkschaftsbewegung?
Wir träumen von einem europäischen Syndikalismus. Zumindest von einem deutsch-französischen Bündnis von Gewerkschaften. Was im Augenblick in Frankreich passiert, ist eine Art Rückeroberung der Gewerkschaften. Deswegen reagieren auch deren Chefs Nicole Notat und Marc Blondel so heftig. Es gibt Kontakte. Aber es ist – wie bei der Erwerbslosenbewegung – nicht sicher, daß es klappt. Ich gehöre zu den Leuten, die dran arbeiten.
Was läßt Sie hoffen?
Es gibt ein sehr wichtiges Phänomen, das große Veränderungen in unserer Epoche auslöst. Das ist der massive Zugang zur höheren Bildung. Auch der Frauen. Die Überproduktion von Diplomierten sorgt dafür, daß wir heute Briefträger und Zugkontrolleure mit ausgesprochen hohen Qualifikationen haben. Nehmen Sie die zentralen Figuren der Erwerbsloseninitiativen als Beispiel. Das sind Leute, die nicht mehr alle Maßnahmen eines wilden Kapitalismus schlucken. Interview: Dorothea Hahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen