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Der Sommer des Chamäleons

Der taz-Sommerroman. Über den heißesten Fall des unglaublich gehandikapten Privatdetektivs John Player. Von Tim Ingold. Elfter Teil

Was bisher geschah: Der durch zwei Gipsbeine gehandikapte John und die schöne Milliönarstochter Ilse suchen gemeinsam das gestohlene Chamäleon Ilses, Rama, auf Sylt und geraten dabei in arge Schwierigkeiten

Die verdammte Rutsche wollte gar kein Ende nehmen. Offenbar hatte Meierdierks unter seinem spießigen Reihenhäuschen einen Keller angelegt, der bis weit unter den Meeresspiegel reichte. Mit lautem Geschrei plumpsten wir in einen Berg ausrangierter Stabhochsprungmatten. Ich schaute mich um. Wir waren in einem großen Raum gelandet, der wie ein unterirdischer Flugzeughangar aussah. Die grellen Neonleuchten unter der gewölbten Decke schienen hinab auf geschäftige Betriebsamkeit: Männer in Arbeitskleidung, mit Helmen auf dem Kopf, Männer in weißen Kitteln, sie alle wuselten durcheinander, fuhren auf elektrisch betriebenen Fahrzeugen umher, bedienten Kräne, Radlader, Schweißgeräte oder machten eine Pause und aßen belegte Brote oder Milchschnitten. „Sind Sie in Ordnung, Ilse?“, fragte ich besorgt. „Hrmpfmmrmmh“, kam es zurück, denn ich saß auf ihrem Kopf. Ich rollte mich zur Seite und hörte sie prustend nach Luft schnappen.

„Ah, wir haben Besuch. Herzlich wilkommen in Chamäleontown.“ Eine äußerst unangenehme Stimme ließ mich herumfahren. In einer großen Gitterbox, die auf der hoch ausgefahrenen Gabel eines Gabelstaplers ruhte, standen drei Männer. Ein Arzt mit weißem Kittel und Stethoskop um den Hals sowie zwei Wachmänner mit automatischen Sturmgewehren. „Ich bin Dr. Stefan Frank“, sagte der Kittel. „Wenn Sie bitte zu mir in die Box kommen möchten? Ich bringe Sie dann zu Ihrem neuen Quartier.“

Wir fuhren durch endlose unterirdische Gänge, durchquerten weitere Gewölbe, vorbei an Gerätschaften, die wie automatische Fertigungsstraßen aussahen, und hielten schließlich vor einem alten fensterlosen Baucontainer. „Ablassen“, befahl Dr. Frank dem Staplerfahrer. Wir wurden von den Wachen in den Container hineinbugsiert. „Ich weiß, dass Sie im Moment wahrscheinlich viele Fragen haben. Möglicherweise können wir uns später ausführlich miteinander unterhalten. Au revoir!“, sagte Dr. Frank, bevor die Tür des Containers dröhnend zufiel. „Ich habe Angst, John“, sagte Ilse.

Sie tastete im Dunkeln nach meinem Gesicht, wobei sie mir mit dem Finger ins Auge piekte. „Ich bin auch etwas beunruhigt“, sagte ich, während llse sich an mich drängte und den Kopf seufzend an meine Schulter schmiegte. „Ich hab auch Angst. Darf ich mitkuscheln?“, drang die Stimme einer Frau aus der hinteren Ecke des Containers zu uns. Ilse zuckte zusammen. „Wer sind Sie?“ – „Ich bin die Avon-Beraterin von Herrn Meierdierks. Ich war vor etwa zwei Tagen in seinem Wohnzimmer, um unser neues Sortiment vorzustellen. Da fragte er mich, ob wir uns nicht gemeinsam Dr. Stefan Frank ansehen wollten ...“ – „Ja, den Rest kennen wir. Haben Sie eine Ahnung, was dieser Irre hier plant?“ – „Nein, tut mir leid. Ich bekomme täglich drei Mahlzeiten durch eine Luke gereicht. Naja, was man so Mahlzeiten nennt. Belegte Brote und Milchschnitten und so. Ein Klo gibt‘s hier übrigens auch.“

Ilse löste sich von mir und krabbelte auf die Eingangstür zu. Sie tastete daran herum, bis sie die Essensluke gefunden hatte und öffnete sie. „Hallo! Hallo! Ist da jemand?“, rief sie hinaus. „Was gibt‘s denn?“, antwortete eine unwirsche Männerstimme. „Bitte, holen Sie uns hier raus!“ – „Kann ich nicht. Hab keinen Schlüssel.“ – „Sind Sie denn nicht der Kerkermeister?“ – „Nein, ich bin der Kärchermeister.“ Kurz darauf hörte man den zischenden Wasserstrahl eines Hochdruckreinigers auf den gekachelten Fliesen. Ilse sank in sich zusammen. „Wir sind verloren, John“, sagte sie matt. Wenn ich doch jetzt nur eine Hühnersuppe hätte, dachte ich.

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