: Der Schmetterling schlüpft
■ Ulrike Grote inszeniert Fritz Zorns autobiografischen Roman „Mars“ klaustrophobisch im Thalia in der Gaußstraße
Etwas hat sich breit gemacht im Foyer des Thalia in der Gaußstraße. Wie der riesige Kokon einer Larve beult sich ein weißes, luftgefülltes Ungetüm in Richtung Eingang und Bar. Es bläht sich auf, scheint zu wachsen, lässt den Theatergästen kaum Raum zum Atmen. Wie ein Krebsgeschwür wuchert es.
Das Publikum muss hinein. Denn hier findet Theater statt. Es greift nach Anweisung der jungen Regisseurin Ulrike Grote nach Klappstühlen und bückt sich durch die geöffneten Reißverschlüsse in den zeltartigen Raum (Ausstattung: Jürgen Hötz). Ein junger Mann (Yuri Englert) tigert derweil ganz vorne um einen Plexiglaswürfel herum. Er sieht ganz normal aus. Doch der enge Kokon um ihn ist sinnfälliger Ausdruck seines Leidens. Er hasst Berührungen, hat nie eine Freundin gehabt, und ihm schnürt ein Geschwür die Kehle zu: Er hat Krebs. „Ich war mein ganzes Leben lang lieb und brav, und deshalb habe ich auch Krebs bekommen“, lautet seine Eigendiagnose.
Eine von vielen Passagen mitleidloser Selbsterkenntnis aus Fritz Zorns autobiografischem Roman Mars. Ulrike Grote hat den Bericht des 30-jährigen Krebskranken in klaustrophobischem Ambiente inszeniert. Fritz Zorn, so das Pseudonym des Schweizer Millionärssohns, erlebte das Erscheinen seines Romans nicht mehr: 1976 starb er an Krebs. Yuri Englert dagegen sieht gesund aus, eher manisch als depressiv, kein bisschen brav und nicht wie 30, sondern knapp 20. Im Lauf der Inszenierung lässt Englerts eindringlicher Monolog solche Diskrepanzen allerdings vergessen.
Auch eine Frau im weißen Kittel, die immer wieder aus dem Würfelinneren auftaucht und dessen Glasoberfläche putzt, scheint zunächst fehl am Platz. Erst langsam wird klar, dass sie das Außen für den Kranken repräsentiert: das harmoniesüchtige Elternhaus, die oberflächliche Ärzteschaft. Ihnen unterwirft sich der Protagonist zunächst vollkommen passiv. Die nahezu stumme Weißkittel-Frau übergießt ihn mit Wasser, schamponiert ihm kräftig die Haare ein und zieht ihn später bis auf die Unterhose aus.
Erst als sie ihn in Klarsichtfolie verpackt hat, regt sich sein Widerstand. Er sprengt den Kokon und wirft die zerknüllte Hülle ins Publikum. Ein allzu plakativer Befreiungsschlag, den sich Ulrike Grote, letztjährige Absolventin der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, da ausgedacht hat. Zu allem Überfluss muss der geschlüpfte Schmetterlingauch noch die Frau aggressiv knuffen, damit auch jeder die Entwicklung vom passiven Dulder zum Kämpfer versteht. Das wäre nicht nötig gewesen. Zorns Sprache beweist Stärke genug.
Karin Liebe
nur noch am 1. 3., 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen