Der Schick des Pferderennens: Gewinnen ist anders
Unter Hannoveranern: Der "Ascot-Tag" auf der Galopprennbahn Neue Bult hat nicht viel zu tun mit großer weiter Glamourwelt. Aber Florentina und Ferdinand machen ihren Schnitt, und die Sonne scheint auch.
HANNOVER taz | Steht ein Mann auf dem Rasen. Fünf Meter von der Bahn entfernt, auf der im Moment kein Pferd läuft. Hat eine Sonnenbrille auf, ein bisschen Schweiß auf der Stirn, die zu viel Sonne abgekriegt hat. Hat ein Weizenbierglas in der Hand. Es ist voll und beschlagen. Er trinkt nicht, zögert es raus. Spricht mit einem Kumpel. Er weiß, dass er gleich sein Bier trinken wird. Das ist schön.
Der Dalmatiner, der anmutig auf einem Teppich sitzt, ist vornehmer als seine Familie. Ein paar Hannoveraner machen hier Picknick. Es ist Sonntag, es ist der „Ascot-Tag“ auf der Galopprennbahn Neue Bult. Das hier ist nicht Ascot. Es tut nur so.
Ein paar schwarze 96-Jacken. Ein paar aufwändige Hüte kombiniert mit Jeans, teure Creolen zu billigem Parfum, oder umgekehrt, eine weiße Bluse, eine schwarze Hose, ein flotter Hut, die Handtasche trägt sie wie eine Hammerwerferin ihren Hammer. Würde es passen, wäre es nicht Hannover.
Der Stargast lacht selbst
Oliver Pocher ist, zusammen mit Tagesschau-Sprecherin Judith Rakers, „Stargast“. Er tritt als Casting-TV-Größe Bruce Darnell auf und bietet eine nicht sehr subtile Form von Rassismus und Homophobie. Betont, nun ja, tuntig säuselt er immer wieder: „Hammer, das ist Hammer.“ Über seine Witze lacht nur Pocher selbst, und das zu laut.
Kinder haben Hüte gebastelt, Hüte: das assoziieren wir mit Ascot, und nun soll der schönste prämiert werden. Pocher soll sagen, welcher Hut gewinnt. Der Sieger bekommt eine Eintrittskarte für den örtlichen Zoo. Sind da nicht gerade fünf Schimpansen ausgebüxt? Gibt sich hier ein Schimpanse als Oliver Pocher aus, der sich als Bruce Darnell ausgibt?
Ein Bowlerhut geht Richtung Totalisatoren, dort liegen die Wettzettel auf dem Boden. Wenn Schuhe drauf getreten sind, sieht man die Abdrücke der Steine im Papier. Kaum ein Ort, an dem nicht Illusion und Wirklichkeit innerhalb von drei Minuten kollidieren. Die VIPs gucken von einem Balkon herunter. So VIP sehen sie gar nicht aus.
Zerbrechliche ältere Damen werden zu den wenigen weißen Bänken auf der Wiese geführt. Ein Collie liegt unter einer Bank im Schatten. Einige der Damen sind schick. Haben diese durch trainierten Fitnessstudio-Waden und kleine Stiefel, die dafür sorgen, dass den Männern ihre Waden nicht entgehen. Ein Mann hat seine Schuhe ausgezogen und die nackten Sohlen in den warmen Wind gestellt. Es ist ein bisschen wie im Freibad.
Windhunde, die das an Aristokratie mitbringen, was ihren Frauchen abgeht, bewegen ihre Ohren: Melancholischen dreinblickende Tiere, so mager, dass es weh tut, zeigen ihre Rippen, Frauchen hält ein Pilsglas in der Hand. Als vor dem Dr. Klein-Cup, der um 16.15 Uhr startet, auch noch Wind aufkommt, werden die Windhunde nervös. Sie bellen leise und machen den Versuch, Richtung Bahn zu laufen, um hinter den Pferden oder vor ihnen her eine Runde zu drehen. Müssen aber „bei Fuß“ bleiben.
Dann ist der Dr. Klein-Cup dran. Dr. Klein – „Ihr Finanzdienstleister“, wirbt Sprecher Sven Wissel. Hier ist alles eine Nummer kleiner. „Next Holly gewinnt vor Durban Thunder“, ruft Wissel. Der Mann vor mir wirft seine Kippe weg, und seine Frau, in schwarzer Lederhose, hüpft vor Aufregung.
„Ich geb euch einen Schein mit“, sagt der Vater zu Florentina, 9, und Ferdinand, 6. Das bedeutet, dass sie von dem Schein einen Euro setzen und den Rest wieder mitbringen sollen. Die Strategie ist, einen Euro auf den Favoriten und auf Platz zu setzen. „Bis jetzt“, sagt der Vater, der ein blau-weiß gestreiftes Hemd und Krawatte trägt, „sind wir im Plus.“ Das müsste man, sinniert er, „mal mit 100.000 Euro statt mit einem machen“.
Des Kleinbürgers Traum
Davon träumen die Kleinbürger ihr Leben lang: Einmal das große Risiko eingehen. Wenn er die Chance hätte, würde er einen Bausparvertrag abschließen. Das mit den 100.000 Euro sagt er erst, als die Kinder auf dem Weg zum Totalisator sind, damit sie nicht hören, dass sie um das Risiko des Verlierens betrogen werden, das dem Gewinnen die Süße schenkt. Florentina und Ferdinand kommen zurück und liefern die vier Euro ab. Der Vater nickt.
Dann kommt der Große Preis des Audi Zentrums Hannover, der hier aber so heißt: „Großer Preis vom Audi Zentrum Hannover“. Ausgerechnet in der Hauptstadt des Hochdeutschen also sorgen Sprachzerstörer dafür, dass der Genitiv auf der Liste der bedrohten grammatikalischen Arten steht. Der „Preis des Audi Zentrums“ über 1600 Meter, dotiert mit 70.000 Euro, von denen der Sieger 40.000 einstreicht, ist das wertvollste Rennen, das auf der Bult geritten wird. Florentina und Ferdinand setzen einen Euro auf Worthadd aus Irland unter Jockey Jean Bernard Eyquem.
Welle der Erregung
Wir sitzen inzwischen im VIP-Zelt und trinken etwas kaltes Rotes, das perlt. Das Rennen ist spannend. Am Ende gewinnt der Außenseiter Sir Oscar unter Adrie de Vries, der sich den Sieg auf den letzten Metern holt. Besitzerin Angelika Muntwyler zeigt, welch enge Beziehung sie zu Oscar hat.
Worthadd wird Zweiter. Durchs Zelt läuft eine Welle der Erregung, als die Pferde vorbei rasen. Arme werden in die Luft gerissen, spitze Schreie ertönen. Das Pferd hat auf Frauen eine spezielle Anziehungskraft.
Florentina und Ferdinand, die ihren Euro auf Worthadd und auf Platz gesetzt haben, machen erneut ihren Schnitt – gewinnen ist anders.
An unserem VIP-Tisch sitzt, von den anderen Gästen ein wenig gemieden, ein älterer Herr mit Hörgerät, der sich einen schönen Fleischteller zusammen gestellt hat. Den bekommt er, im Gegensatz zu den Puddings, die ihm als Dessert vorschweben, weggeputzt, bevor ihn der „Große Preis“ von seinem Platz holt. Darauf hat die Bedienung gewartet. Schon ist der Pudding weg. „Oah, abgeräumt“, sagt der Mann mit dem Hörgerät enttäuscht, als er wiederkommt, und holt sich Nachschub.
Hannover ist nicht Ascot. Vielleicht kann man sich keinen größeren Gegensatz als Hannover und Ascot denken. Das ist das Gute an Hannover.
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