Der Mensch denkt und Corona lenkt: Bei Rammstein im Alptraum
Als Musikerin ist unsere Autorin gerade quasi in Corona-Frührente. Immer noch besser als bei einer Skandalband mitzuspielen, findet sie.
![Videoprojektion eine Person in schwarz-weiß auf eine Hauswand Videoprojektion eine Person in schwarz-weiß auf eine Hauswand](https://taz.de/picture/4256250/14/rammstein_radio-video-kritik-band-berlin-1.jpeg)
A lle arbeiten wieder. Die im „Homeoffice“ (Unwort des Jahres) sowieso, aber auch alle anderen. Nur ich hab weiterhin nichts zu tun. Die Konzerte, die vom April und Mai auf September verschoben wurden, werden nun auf 2021 verlegt. Andere soloselbstständige Musiker*Innen schreiben: „Huch! Ich hab ja mehr zu tun als vor Corona!“ und zählen ihre Streamaktivitäten auf. „Streamen“ ist das zweite Unwort des Jahres.
Ich streame nicht, ich häng lieber ein bisschen rum. Es ist fast wie früher. Was hat man da bloß immer gemacht? Da war man eben jede Nacht unterwegs und hat sich tagsüber erholt, um abends wieder loszuziehen. Aber abgesehen davon, dass die Freund*innen jetzt alle entweder Kinder, Beziehungen oder viel Arbeit haben, hat man ja auch selbst nicht mehr die Kondition für ein tägliches Ausgehprogramm, und es ist ja auch nicht mehr so interessant wie früher.
Dann bin ich eben Frührentnerin, nur eben ohne Rente. Freund*innen sagen, ich soll jetzt mal die Grundsicherung für Künstler*innen beantragen, bevor alle Reserven verbraucht sind. Ich will zuerst nicht, aber Corona-Zeiten sind anders prekär als frühere prekäre Zeiten. Nun bin ich also soloselbstständige Hartz-IV-Künstlerin. Es ist gar nicht so schlimm, und es geht ja wieder vorbei. Eines Tages wird es wieder volle Konzerte, Stücke mit 20 Leuten auf der Bühne geben. Jetzt ist erst mal Sommer, und ich hab den Rest vom Jahr frei.
Nachts aber plagt mich ein schwerer Albtraum. Ich spiele bei Rammstein mit, gehöre zur Band, stehe mit den Typen in einem großen Backstage rum und bin verzweifelt. Was hab ich denn mit denen zu tun? Wie bin ich bloß hierhergekommen? Ich fand die doch immer so schlimm, so blöd, so dumm. Und dieser schreckliche Sänger mit seinen Vergewaltigungsgedichten und die ganze Naziästhetik, das richtet sich doch gegen alles, wofür ich stehe! Warum mache ich da mit? Aber das Konzert geht gleich los, und es gibt keinen Weg zurück.
Weiß geschminkt und in Betttücher gewickelt
Die Musiker haben weiß geschminkte Gesichter und sind mit weißen Togas oder Togen – so um den Körper geschlungene Betttücher – bekleidet. Der Sänger spricht mich an, ich müsse dann aber beim Konzert schon ein bisschen Haut zeigen. Betreten nicke ich und hoffe es reicht, wenn ich auf der Bühne mal einen Arm aus der Toga strecke.
Mein Herz, meine ganzen inneren Organe sind vor Kummer schwer wie Stein, auch außerhalb des Körpers lastet etwas ganz Schweres auf mir – Gedanken rasseln durchs Gehirn, aber ich kann mich trotz der größten Anstrengung nicht entsinnen, wann und warum ich mich darauf eingelassen hatte, bei Rammstein mitzumachen.
Dann wird eine große Rückwand des Backstagebereichs wie von Zauberhand hochgezogen, und dahinter kommt ein Supermarkt zum Vorschein, mit Einlassbereich und Einkaufswagen, wie bei Rewe oder Edeka. In weihnachtlicher Dekoration werden Elektrowaren, und teure Markenartikel präsentiert. Ich verstehe: Das ist wie bei den Oscars, da kriegen die Stars ja auch wertvolle Präsente. Und bei Rammstein gehört wohl zu jedem Backstage ein Geschenke-Supermarkt, steht vielleicht so im Tour-Rider.
Schweißgebadet erwache ich, erkenne nach und nach die Umrisse meines Schlafzimmers, werde mir langsam bewusst, dass ich doch nicht bei Rammstein spiele, sondern bei mir zu Hause und immer noch Corona-Frührentnerin bin. Was für ein Glück! Aber was will mir dieser Traum nur sagen?
In der folgenden Woche scheint es plötzlich ein bisschen aufwärts zu gehen. Konzerte werden angefragt, in kleiner Besetzung, draußen. Theaterprojekte für 2021 verabredet. Geht es wirklich weiter? Die Stimmung hebt sich. Aber erst mal abwarten. Denn der Mensch denkt und Corona lenkt.
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