Der Mauerfall und die DDR-Provinz: "Das war schlicht zu unglaubwürdig"
Die Mauer in Berlin war gefallen. Nicht aber der Grenzzaun in der Provinz. Vom vergeblichen Versuch am 9. November nach drüben zu kommen.
BERLIN taz | Im Süden der DDR-Republik liegt das kleine thüringische Dörfchen Crock. 1.200 Einwohner. Ein Konsum, eine Kirche, vier Kneipen. Tiefste Provinz. Und irgendwie fast vergessen. Schließlich trennte schon in fünf Kilometern Entfernung der Todesstreifen Regime und Freiheit. Irgendwie arrangierte man sich damit. Doch der ein oder andere träumte weiterhin heimlich davon, einfach einmal "rüber" zu gehen.
1989, im Jahr des Mauerfalls, habe ich in diesem Crock gelebt. Erst im südlichsten Zipfel der DDR, dann plötzlich mitten in Europa. Für mich hat alles im Juli des Jahres angefangen – im Urlaub mit meinen Eltern und Geschwistern am Balaton in Ungarn. Dort konnten wir uns ungestört mit meinen Taufpaten und ihren Familien aus dem Westen treffen.
Ich war erst zehn Jahre alt, ahnte nichts vom Umschwung, nichts von den Flüchtlingslagern. In diesem Sommer diskutierten meine Eltern hingegen nächtelang mit ihren Freunden, ob sie in Ungarn bleiben sollen oder nicht.
Am Ende entschieden sich meine Eltern zurückzufahren. Was hätten sie, erzählt mein Vater, mit drei kleinen Kindern im "Wilden Westen" (wie meine kleine Schwester immer sagte) auch machen sollen? Als Pfarrer hatte er sich in dieser schwierigen Zeit auch seiner Gemeinde gegenüber verantwortlich gefühlt. Die Fahrt nach Hause mit dem gelben Wartburg wird lang, in den Abendnachrichten erst sehe ich die ersten Bilder der Flüchtlingslager. Wenige Tage später öffnet Ungarn seine Grenze nach Österreich. Zehntausende DDR-Bürger nutzen die Chance zu flüchten.
Meine Eltern handeln in diesen Tagen antizyklisch. Fahren zurück in die DDR. Wollen vor Ort etwas bewegen und nicht ausreisen. Das wäre nur die absolute Exit-Strategie gewesen, sagt meine Mutter. So nehmen sie an den Montagsdemos in Leipzig teil, diskutieren am Runden Tisch mit, schauen viel Westfernsehen.
Am 9. November schließlich, es ist 18.53 Uhr, verliest Günther Schabowski die neuen, freizügigen Reiseregelungen für alle DDR-Bürger. Die Nachfrage eines Journalisten, ab wann sie gültig sei, beantwortet das Politbüromitglied mit den legendären Worten: "Nach meiner Kenntnis gilt das ab sofort. Unverzüglich."
"Klar habe ich die heute-Nachrichten gesehen", erzählt mein Vater. "Aber wir wussten nicht, was das für uns jetzt bedeutet." Zudem habe wenige Minuten später der Konfirmanden-Elternabend im Gemeindesaal angefangen. Da sei nicht viel Zeit zum Nachdenken geblieben.
Doch die Stimmung im Gemeinderaum war "irgendwie eigenartig", erinnert sich meine Mutter. "Es lag etwas in der Luft, was nicht zu greifen war." Dass wir sofort in den Westen hätten reisen dürfen, sei für alle schlicht zu unglaubwürdig gewesen.
Das ZDF bringt in seiner heute-Sendung die Meldung auch erst an später Stelle, unter anderem nach der Bekanntgabe der vom Bundestag beschlossenen Rentenreform. Wahrscheinlich hat der öffentlich-rechtliche Sender die Informationen einfach zu spät übermittelt bekommen.
Die Diskussionen der Eltern der Konfirmanden drehten sich an diesem Abend nicht mehr um das Vater Unser, die Bibel oder die anstehende Zeremonie. Vielmehr versuchen sie sich im Interpretieren von Schabowskis Worten. Am Ende sitzen alle bei meinen Eltern im Wohnzimmer vor dem Fernseher und warten gespannt auf die Tagesthemen der ARD.
Die ARD organisiert zwar fix einen Brennpunkt zum Thema Schabowski, ihr Mann in Berlin steht aber am falschen Stück der Mauer. Keine Bilder von glücklichen DDR-Bürgern, die gerade die Grenze passieren dürfen, nur der Reporter im Dunkel der Nacht. Immerhin kann er bestätigen, dass die Regelung ab sofort gilt. Und ein Zeuge berichtet, dass am Grenzübergang Bornholmer Straße die ersten Menschen vom Osten in den Westen kommen, sich weinend in den Armen liegen.
Im Wohnzimmer meiner Eltern herrscht jetzt Aufbruchstimmung. Nun glauben auch sie, dass sie rüber dürfen. Während meine Schwestern und ich den Schlaf der Gerechten schlafen, rüsten meine Eltern zum Aufbruch. Autos werden organisiert und die meisten Konfirmanden-Eltern fahren in vier Autos zum wenige Kilometer entfernten Grenzübergang Eisfeld-Rottenbach. Wir Kinder bleiben zurück.
Die Ernüchterung folgt schnell. "Den Schlagbaum konnten wir zwar passieren", erinnert sich mein Vater. "Aber am eigentlichen Übergang wurden wir für verrückt erklärt und wieder zurückgeschickt." Dabei hätten sie von Schabowskis Worten erzählt, von der Reisefreiheit und dass in Berlin die Mauer offen ist.
"Hat alles nichts geholfen", sagt mein Vater. "Die wollten uns nicht durchlassen, hatten ja auch keinen Fernseher." Der Bitte, doch mal in Berlin anzurufen, kann der Grenzpolizist nicht folgen. "Man könne hier nur aus Berlin angerufen werden", erklärt er. Eigenständiges Anrufen würde nicht funktionieren. Während also in Berlin tausende Menschen nach Westberlin strömen, bleibt die Provinz verschlossen.
Am nächsten Morgen steht mein Vater schon um sechs Uhr früh bei der Volkspolizei vor der Tür, lässt sich das Visum in alle Pässe stempeln. Kurz vor Acht fahren wir im vollgepackten Wartburg los – und natürlich an der Schule vorbei, die gegenüber des Pfarrhauses stand.
Der Direktor verkündet beim Morgenappell, der Pfarrer sei heute mit seiner Familie in den Westen abgehauen. Kurz danach stehen wir schon in der Schlange vor dem Grenzübergang. Ich bin furchtbar aufgeregt, muss die Schule schwänzen und um mich herum die vielen Grenzsoldaten, Zäune, Überwachungstürme.
Dann sind wir plötzlich im sagenumwobenen Westen. In Coburg. Und überall gibt es Westautos, bunte Schaufenster und im Kaufhof eine wahnsinnige Lego-Auswahl in der Spielzeugabteilung. Wir besuchen gleich am Morgen noch einen Freund der Familie. Ungläubig öffnet er die Tür, er hat noch keine Nachrichten gesehen und fragt angstvoll, ob wir abgehauen seien.
Die Angst, uns Fünf jetzt bei sich aufnehmen zu müssen, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Wir beruhigen ihn, erzählen vom Mauerfall und gehen erstmal Sahnetorte essen und heiße Schokolade trinken. Traumhaft. Später lasen wir in der Stasiakte, dass dieser "Freund" an der Grenze immer bereitwillig Informationen über uns nach Ost-Berlin geliefert hatte. Enttäuschend.
Am nächsten Tag, einem Sonnabend, schleiche ich schuldbewusst in die Schule – schließlich hatte ich unentschuldigt gefehlt. In meinen Händen ein Stück Papier, auf das mein Vater die Entschuldigung geschrieben hatte: "Aus historischem Anlaß, Martin Luther hatte gestern 506. Geburtstag, besuchten wir die Veste Coburg. Da sich die Ereignisse zur Zeit überschlagen, war es uns leider nicht möglich, Ihnen vorher Bescheid zu geben."
Zehn Minuten später bin ich wieder daheim. Die Schule wie ausgestorben. Inzwischen waren alle anderen auf dem Weg in den "Wilden Westen". Und ich musste nie wieder am Wochenende zur Schule.
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