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■ Der Kampf von Daimler gegen die volle Lohnfortzahlung läutet den Abschied von der Sozialpartnerschaft einDas neue Modell aus Stuttgart

Betrügerisch, erpresserisch, selbstmörderisch, kamikazehaft, unverständlich: Die Attribute, mit denen in den letzten Tagen der Daimler-Vorstoß zur Lohnkürzung im Krankheitsfall bedacht wurde, wollen keinen Zweifel lassen, auf wessen Seite bei der aktuellen Auseinandersetzung die Vernunft regiert und wer zur Vernunft gebracht werden soll. Aus ihnen spricht die Wut über die gebrochene Zusage, in ihnen klingt die Verwunderung an, daß die einstige Inkarnation des „made in Germany“ zum Menetekel eines längst überwunden geglaubten Manchesterkapitalismus mutierte. In ihnen drückt sich die Hoffnung aus, daß sich die Leitung wieder auf eine partnerschaftliche Unternehmensphilosophie verpflichten lasse. Doch in ihnen schimmert auch die Angst durch, daß sich in dem Vorgehen des Unternehmens womöglich der Entwurf einer neuen, einer amerikanischen Variante des Modells Deutschland abzeichnet.

Es ist Wahnsinn, doch es hat Methode. Und nach der wird nicht erst seit der letzten Woche vorgegangen. Hatte nicht Gesamtmetall-Chef Werner Stumpfe im März das Bündnis für Arbeit für tot erklärt und damit die Arbeitslosen von der Themenliste der Tarifpartner gestrichen? Der Versuch, Arbeitslosigkeit auf dem Wege der Arbeitsumverteilung zu bekämpfen, war gescheitert und zugleich eine strategische Schwäche der Gewerkschaften in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf längere Sicht festgeschrieben.

Bereits zuvor hatten die Arbeitgeber das Bündnis für Arbeit um die Standortsicherung erweitert, danach blieb nur letztere übrig, erstere wurde zum wohlfeilen Argument, eine auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit zielende Kostenreduzierung durchzudrücken. Die Senkung der Arbeitskosten um zwanzig Prozent kündigte Stumpfe seinerzeit an, wenn es sein müsse, auch ohne Tarifparteien und mit „ein bißchen weniger sozialen Frieden“. Wer das als wildes Getrommele eines Verbandschef abtat, wird nun eines Schlechteren belehrt. Die Bundesregierung hat, dem Druck der Arbeitgeber entsprechend, die Kürzung der Lohnfortzahlung beschlossen und will sich nun biedermännisch wundern, daß sie auch umgesetzt wird. Umgekehrt wird für Daimler-Benz ein Schuh draus. „Wir hätten bei den Politikern, da sie unsere Forderungen erfüllt haben, Glaubwürdigkeit verspielt, wenn wir erst das Auslaufen des Tarifvertrages abgewartet hätten“, so Firmensprecher Jürgen Wittmann. Beide Seiten sind geübt, mit verteilten Rollen die Stärkung des Standorts voranzutreiben. Während andere Firmen die Kosten des Konsenses noch gegen den Nutzen des Vertragsbruchs saldieren, ist sich der Stuttgarter Konzern seiner Führungsrolle bewußt. Während die Arbeiter sich bei der Erinnerung an das erfolgreiche Erstreiten der Lohnfortzahlung erwärmen, orientieren sich die Unternehmer an den Arbeitskämpfen, in denen ihre amerikanischen und britischen Kollegen nicht nur ihre jeweiligen Belegschaften zermürbten, sondern auch deren Organisationsgrad minimierten.

Gerade weil es sich um Deutschlands Vorzeigeunternehmen handelt, ist Daimler prädestiniert für diese signalgebende Auseinandersetzung. Hat es nicht, seit Schrempp am Ruder ist, seine Fähigkeit zu harten Rationalisierungsmaßnahmen unter Beweis gestellt? Und hat nicht der Vorstandsvorsitzende seine Wertschätzung für den Standort Deutschland hinreichend zum Ausdruck gebracht, als er in trauter Bonner Runde verkündete, daß bis zum Jahr 2000 mit keinen Steuern aus Stuttgart mehr zu rechnen sei. 600 Millionen koste sie die Lohnfortzahlung, jammert nun die Konzernleitung. Die Einbußen durch Kampfmaßnahmen übertreffen die eingesparten 120 Millionen, rechnen nun alle die dagegen, die meinen, Arbeitskampf sei alleine eine Sache der Vernunft.

Doch dererlei Argumente verbrauchen sich. Noch vor nicht allzu langer Zeit schien es ein vernünftiger Gedanke, daß die Arbeitseinkommen Nachfrage hervorrufen, mithin ihre Steigerung Konjunktur ankurbele. Auch Tarifpartnerschaft zu hegen und Verbandssolidarität zu pflegen, galt als klug. Doch haben Konzerne wie Daimler schon längst den nationalen Rahmen verlassen, an dem sich solch Sinnstiftung orientiert. Das entgrenzte Kapital läßt sich so kaum mehr binden. Stimmt die Rendite nicht, wartet es nicht, bis sich die Bedingungen ändern, sondern es ändert den Standort. An dieser schieren Dispositionsmacht werden sich auch all jene Politiker reiben, die das Sozialstaatsmodell verteidigen und die Lohnfortzahlung per Gesetz zurückholen wollen. Für diese Ziele braucht die Linke die Macht in Bonn.

Nun mag der Herbst Hitze bringen, doch bringt er auch andere Mehrheiten? Wohl kaum, denn mittlerweile ist es linker Allgemeinplatz, daß, wer die Wahlen gewinnt, über die Wirtschaft bestimmt. Und noch definiert die Wirtschaft auf ihre Weise, was Fortschritt ist.

Die Linke entweicht diesem Dilemma, indem sie es in einem europäischen Ordnungsrahmen neu definiert. Doch fällt auch dieser Verweis auf sie zurück. Wurde nicht in dem Sozialstaat per se, in Schweden, die Lohnfortzahlung durch Sozialdemokraten gekürzt, und hat nicht die Gewerkschaft mucksmäuschenstill gehalten. So wird das Ideal von einst zum Spiegel, in dem die hiesige Sozialdemokratie ihre Rückwärtsgewandtheit betrachten kann.

Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde in wochenlangem Streik erkämpft. Sie gehört, über den materiellen Wert hinaus, zu den symbolträchtigen Errungenschaften der deutschen Arbeiterschaft. Deshalb kommt der Auseinandersetzung exemplarischer Charakter zu. In Daimlers Hallen wird ein Exempel statuiert, von dessen Wirkung sich die Unternehmensleitung mehr verspricht, als sie einzubüßen glaubt. Ihre Risiken halten sich in Grenzen, denn die tarifliche Absicherung wird so oder so auslaufen, der vorfristige Bruch der Verträge und die Uneinheitlichheit der Vertragslage zwischen den Branchen (aber auch innerhalb des Metallbereiches) wird in die Verhandlung zwingen. Einzig auf deren Ergebnis werden die aktuellen Protestmaßnahmen einen Einfluß haben. Es wird ein Kompromiß sein, doch nicht mehr der Status quo ante. Und selbst der wird womöglich nur eine willkommene Atempause sein. „Jetzt geht es erst richtig los!“ hat der BDI- Präsident Olaf Henkel dieser Tage getönt. „Jetzt geht's los?“ Dergleichen hat man von der Gegenseite schon länger nicht mehr gehört. Dieter Rulff

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