Der Hype um die Durchsichtigkeit: Transparency International
Die Augen der anderen sollen sehen, vielleicht auch begehren: Durchscheinende Kleider sind ein anhaltender Trend.
Ich fürchte mich vor dem Frühling. Vor dem Sommer erst recht. Die Leute ziehen sich aus, zeigen ungefragt ihre Körper. Sie werden wahnsinnig aktiv, wetteifern darum, wer den meisten Spaß hat. Das habe mit Lebenslust zu tun, sagen sie, mit der Sehnsucht nach Leichtigkeit. Warum verstehe ich das nicht? Leichtigkeit, das wäre doch schön, oder? Wenigstens für ein paar Momente.
So ähnlich denkt es sich offensichtlich auch die Mode. Seit zwei, drei Jahren hantiert sie manisch mit transparenten Stoffen herum. Der Körper soll tanzen, im Karnevals-Tutu hineinwehen in die Krisenzeit, sich von allem Schweren lösen, das mittlerweile ja ununterbrochen da ist.
Ich gebe zu, ich bin unsicher, wie ich den Transparenztrend finden soll. Die Dinge sind zu kompliziert, um mit einer Meinung auszukommen. An einem ratlosen Dienstag gehe ich also ins Museum, genauer gesagt in die Gemäldegalerie in Berlin. Ein guter Ort, um sich die Geschichte transparenter Mode anzuschauen.
Die Leute glauben, sie liefen auf den Zehenspitzen der Gegenwart, dabei könnten sie ihren Auftritt genauso gut in einem Gemälde aus dem 17. Jahrhundert haben. Eine Bacchantin auf einem Werk von Jan Brueghel d. J. (1601–1678) etwa trägt ein Naked-Dress, das auch Kendall Jennar oder Emily Ratajkowski problemlos auf der Met-Gala im Mai vorführen könnten. Ähnliches gilt für das transparente Oberteil, das die auf Gartenarbeit versessene römische Göttin Pomona bei Fancesco Melzi (1491–1570) anhat. Es könnte aus der Prada-Frühlingskollektion des vergangenen Jahres (Look 25) sein.
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Sich zeigen und dabei fremd bleiben
Im Winter fing es an, dass ich dachte, mit der Transparenz wird es jetzt richtig spannend. Ich stand vor dem Schaufenster eines Berliner Kaufhauses und starrte auf ein Frühlingskostüm, ebenfalls von Prada. Ein transparenter Rock aus feinem Organza mit einem ausgesprochen blickdichten Blazer. Die Kombination wirkte ungewöhnlich und erfrischend trotzig. Blickdichte gegen Transparenz. Jede beansprucht eine Körperhälfte für sich.
Wer so etwas noch nicht gesehen hat, kann sich an dem alten, in den 1920er Jahren in England erfundenen Zaubertrick „Die zersägte Jungfrau“ orientieren: Der Kopf ragt aus der einen Kiste heraus, die Füße aus der andern. Der Effekt des geteilten Frühlingskostüms ist ähnlich. Man braucht nur einen Restauranttisch als Säge dafür. Oben der Tagesschick, unten die Verführung. Erst beim Verlassen oder Wechseln der Plätze fliegt der Schwindel auf.
Wie gesagt, die Transparenz der Stoffe ist seit einiger Zeit im Umlauf. Von einem Trend zu sprechen, ist da fast zu wenig. Die Vogue hatte 2022 zum Jahr des transparenten Kleides ausgerufen. Doch das Magazin View attestiert auch für 2024 eine deutliche Zunahme körperenthüllender Mode.
In der pathetischen Sprache des Marketings klingt das ganz schön martialisch. Der in Transparenz gehüllte Körper soll verschlingen („devore“), soll sich nehmen, was er will. Vom Körperstolz ist die Rede. Die Bewegungen der Body- und Sex-Positivity treiben den Trend vor sich her. Wobei die Generation Z, die für die Modeindustrie bis auf Weiteres ausschlaggebende Zielgruppe, den offiziellen Sinn diktiert. Sie sei es, heißt es in der View, die die eigene Sexualität mit nie gesehener Selbstverständlichkeit ausdrücke – und zwar ohne sich durch den sexuellen Appeal ihrer Garderobe auch nur im Entferntesten dem Objektstatus zu beugen.
Sich zeigen und dabei fremd bleiben. Das wäre das Beste, was die Transparenz für die Mode erreichen kann. Einen Triumph über das Schaufensterprinzip. Schau, was du haben könntest. Nun wird die Macht neu verteilt. Die Augen der anderen sollen sehen, vielleicht auch begehren. Die Deutungshoheit, geschweige denn ein Recht daraus abzuleiten haben sie nicht.
Den Körper bewusst als Beute ausstellen
Auf einem Foto im Magazin Numéro (Ausgabe 243) erkennt man diese Machtumkehr gut. Zu sehen ist das Model Tanya Churbanova in einem Mousseline-Kleid von Anthony Vaccarello (Saint-Laurent). Das lange, ausgestellte Gewand ist mit Schmetterlingen verziert. Oder sind es dunkle Vögel? Fotografiert wurde aus der Untersicht. Sodass die androgyne Schönheit wie eine strenge Priesterin erscheint, deren Herablassung jede Anzüglichkeit unter sich begräbt.
Ein ganz anderes Bild, das mir wichtig ist, weil es ein paar Körner Salz in die Selbstsicherheit streut: Madison Square Garden, 19. Mai 1962. In einem glitzernden und in letzter Sekunde auf den Leib genähten Naked-Dress von Jean Louis bringt Marilyn Monroe dem Präsidenten J. F. Kennedy vor 15.000 Zuschauern ein Geburtstagsständchen. Gefeiert wird dieser Auftritt bis heute. Als Beginn und erster Höhepunkt transparenter Mode, als Moment ewigen Glamours.
Die Deutungskämpfe um diese Szene reißen trotzdem nicht ab. Vielleicht war es so: Marilyn Monroe feiert einen Triumph über die Männer, die sie, wie man so sagt, mit Blicken ausziehen. Sie stellt ihren Körper bewusst als Beute aus, als Geschenk für den Präsidenten und macht ihn gerade dadurch unangreifbar. Ein Akt der Revanche. Woher dann aber diese zentnerschwere Traurigkeit, die über der Szene liegt, woher die Ahnung, dass es wieder nicht gelungen ist, diesen Körper zu beschützen, dass sich die Beschämung wiederholt?
Frei davon sind nur die Götter und ihr Hofstaat. Ist zum Beispiel die Bacchantin der Malerin Angelica Kauffmann (1741 –1807). Lorbeeren im gelockten Haar, ein leicht verrutschtes Hemdchen, durch das hindurch man ihre Brüste sieht. Heiter lächelt die junge Mänade an ihrem Gegenüber vorbei. Kauffmann inszeniert sie als Einzelperson, nicht als Teil einer Gruppe, nicht als eine der Begleiterinnen des Dionysos, Gott des Rausches und der Ekstase. Sie könnte eine Liebhaberin sein, eine immer etwas zu hastige Fee, eine Künstlerin des Rokoko. Tatsächlich ist dieses Bild ein Selbstporträt.
Der Körper ist umkämpft
Es erzählt von der Sinnlichkeit, von der eigenen Lust. Der transparente Stoff bringt diese Möglichkeit von Anfang an mit. Bereits der kleinste Selbstversuch schenkt eine Ahnung davon. Den eigenen Arm durch ein Stückchen Gazestoff hindurch betrachten und spüren, wie er sich in ein Geheimnis verwandelt. In solchen Momenten fängt Mode an. Man sieht alles und doch wieder nicht. Ein Körper in transparenten Kleidern ist niemals nackt. Er trägt, wenn man so will, ein Kleid aus Gedanken.
In Zukunft und Stolz ist dieser Körper gehüllt. Persönlich finde ich das eher ziemlich schlicht. Aber was soll’s, die Transparenz meint nicht mich, die ich ihr viel zu weit weg bin, von allem, was verschlingen kann. In den 1960er Jahren war sie bei André Courrèges ein Ausdruck von Optimismus. Heute denkt die Transparenz eher die Bedrohung mit.
Transparente, computergenerierte 3-D-Oberflächen, spinnenfeine Ganzkörpertrikots von Casey Cadwallader (Mugler) feiern einen Körper, der die Vergangenheit, sogar die Gegenwart hinter sich lässt. Der so leicht wird, dass er weder trauern noch Angst haben muss, vermutlich noch nicht einmal mehr sterben.
Ist das die Leichtigkeit, nach der die Frühlingsbesessenen streben? Vermutlich nicht. Denn ohne Trauer und Angst wird es einsam. Ohne den Tanz der Bacchantin, ohne die Widersprüche der Transparenz, ohne ihre manchmal zarte Melancholie. Nicht nur die Lust, auch die Keuschheit ist im Spiel, wenn die Mode durchsichtig wird. Und weil ich gerade im Museum bin: Ein transparenter Schleier umhüllt das Jesuskind bei Jan Gossaert (Maria mit dem Kind, 1478). Maria selbst wird seit der Renaissance häufig mit durchsichtigem Schleier gezeigt. Er legt sich als Zeichen der Unberührtheit um ihre Stirn. Brautschleier sind aus ebendiesem Stoff gewebt. Die Transparenz ist eine Zuspitzung, jedes Mal aufs Neue.
Denn was sieht man durch den Stoff hindurch? Den Körper, ja. Die Probleme fangen damit erst an. Der Körper ist umkämpft. Seine Freiheit, seine Sinnlichkeit. Wer darf ihn deuten? Die Transparenz liebt solche Fragen. Sie formuliert radikaler als andere, ist paradox, anmutig, aufdringlich, verliebt in die Illusion, die Wahrheit heißt. Ich weiß immer noch nicht, ob ich sie direkt ansprechen soll. Aber ich bewundere sie für ihre Tollkühnheit und ihren Charme, und ganz sicher beneide ich sie um das schwarz-weiße Kleid von Ann Demeulemeester, das sie seit dem Herbst 2013 im Schrank hat und das so leicht ist wie ein Blatt im Wind. Ach, der Herbst.
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