Der Hausbesuch: Mensch sein ist schwierig und schön

Für die Sängerin Inger Nordvik ist das Zuhause mehr als ein Ort. Zuhause kann auch ein Lied sein oder eine Art zu leben.

Inger Nordvik sitzt auf dem hellen Sofa daneben ein sehr großer Kaktus, auf dem Tisch steht ein Strauß Blumen

Inger Nordvik auf ihrem Sofa in Berlin-Neukölln. Einst kam sie aus Nordnorwegen Foto: Julia Baier

Sie könne nicht sagen, wie es ist, ein Lied zu schreiben. Das sei so subtil. Aber wenn es dann im Studio produziert wird, ist es konkreter und fürs Konkrete fänden sich Worte leichter. Viel wichtiger aber sei ohnehin: Ist ein Lied fertig, gehöre die Musik nicht mehr nur ihr.

Draußen: In Neukölln lebt Inger Nordvik. Unweit der Sonnenallee. Die Sonnenallee wurde nicht nur verfilmt. Zuletzt war sie in der Silvesternacht in den Schlagzeilen. Schlimm war es. Das Wort „Bürgerkrieg“ fiel. In der unmittelbaren Parallelstraße zur Sonnenallee, dort wo die Sängerin wohnt, war es in der Silvesternacht ruhiger. Es wirkt vorstädtisch hier. Auf der Straße ist niemand zu sehen.

Drinnen: „Minimalistisch“ nennt Inger Nordvik die Einrichtung der Wohnung. Ein schwarzes Klavier, ein Sofa in Beige, ein kleines Regal, ein moderner Ofen, wo dem Feuer zugeschaut werden kann. Die Pfauenfeder, die hinterm Regal hervorlugt, ist wie barocke Opulenz im kargen Interieur. Es ist die Wohnung von Inger Nordviks Freund. Sie ist zu ihm gezogen. Die Kartons, die im Flur stehen, wirken, als wären sie noch vom Umzug übrig geblieben. Das täuscht. In einem sind die CDs, im anderen die Schallplatten von Inger Nordviks neuem Album.

Minimalismus: Minimalistisch ist auch die Musik, die Inger Nordvik macht. Mitunter mutet es an, als suche sie nach dem Moment, wo Nichtmusik zu Musik wird. Wo Stille klingt. Wo der Wechsel zwischen Dur und Moll, subtil zwar, aber doch als Schock daher kommt. Wo jazzig Unsymmetrisches plötzlich atmosphärisches Rauschen ist. Ihre Musik ist reduziert, aber nicht erwartbar. Ihre Musik ist wie die Wohnung: In einer Umgebung ohne Farbexzesse sticht doch hin und wieder eine Pfauenfeder hervor.

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Wind: Inger Nordvik hat „Norden“ im Namen. Und sie wurde in „Nordnorwegen“ geboren. Gefragt, warum sie „Nordnorwegen“ so betont, ja gar etwas wie Stolz mitschwingt, wenn sie es sagt, verweist sie auf das langgestreckte Land und dass es im Norden ganz anders sei als im Süden. „In Nordnorwegen sind die Kontraste so stark.“ Licht – Dunkelheit. Berge – Meer. Der schwarz-weiße Winter und der farbige Sommer. Mitternachtssonne und Winterdunkel. Die Stille in der Natur – und ihr Krach, das Rauschen der Flüsse, der Sturm. Morgens Sonne, mittags Regen, abends Nebel oder umgekehrt mit Gewitter und Schnee. „Ständig wechselt der Wind.“

Freiheit: Sie fühle sich so frei in ihrer Heimat. „Mit Kontakt zur Natur, zu den Elementen.“ Auch bereite es ihr große Freude, alleine unterwegs zu sein, zu wandern, Langlauf zu machen. Ob sie überleben könne in der Abgeschiedenheit? Feuer machen, Angeln, das ja, „aber wenn die Welt untergeht, darauf bin ich nicht vorbereitet.“

Harstad: Nordvik ist mit drei Geschwistern in Harstad aufgewachsen. Einer Kleinstadt am Meer, 24.000 Einwohner und Einwohnerinnen, 250 Kilometer nördlich des Polarkreises. Ihre Mutter ist Lehrerin und kommt aus Oslo, aus dem Süden Norwegens. Im Winter setzt sie sich vor eine Tageslichtlampe, weil sie die stete Dunkelheit, tagsüber bestenfalls Dämmerung, sonst nicht aushält. Der Vater ist Pfarrer. Einer, der gern Jazz und Rock hört, erzählt die Musikerin. Das Religiöse habe keinen so großen Einfluss; das sei ein Job. „Mein Vater ist ein Liberaler.“ Es passiert im Gespräch mit Inger Nordvik öfter, dass sie ein Wort sagt, vorher „Wind“, jetzt „Liberaler“, und dann schwingt etwas Ungesagtes mit.

Kirchenlieder: Aber klar, sie sei häufig in der Kirche gewesen. Und dazu die Musik. Die „nordnorwegischen religiösen Lieder, mit ständigem Wechsel von Dur und Moll“, das habe immer zu ihrem Alltag gehört. „Eigentlich mit viel Moll, viel Gefühl.“ Die Lieder seien mündlich tradiert worden, und hätten sich so stetig verändert. „Dadurch entsteht Spontanität und die Fragen zum Leben und so, die besungen werden, bekommen auch etwas Leichtes.“ Durch die Kirche wird Musik in ihrem Leben selbstverständlich. Zu Hause gibt es ein Klavier. Gesangsunterricht hat sie auch. „Und ja, über Existenzielles habe ich auch mehr nachgedacht.“

Aufbruch: „Wenn man an so einem Ort aufwächst, fragt man sich aber, was gibt es noch.“ Sie jedenfalls ist neugierig, und als sie zum ersten Mal in Paris ist, findet sie es umwerfend. Sie betrachtet das Urbane wie eine Ethnologin. „Wie leben die Leute da? Was ist das für ein Leben mit diesem Chaos, diesen Gegensätzen im Menschlichen? Das fand ich spannend.“ Sie beschließt: Nach der Schule geht sie weg. 2007 ist es so weit.

Ein enges Treppenhaus, dessen Wände und Stufen weiß gestrichen sind

Ein Treppenhaus im Berliner Altbau, menschenleer, fast wie die Straße vor ihrer Haustür Foto: Julia Baier

Eine Frage des Zuhauses: Erst zieht sie nach Oslo, studiert dort klassischen Gesang. „Für mich war Musik meine Liebe. Aber wenn man studiert, geht es auch um Präzision und Performance. Und um die Frage, ‚möchte ich eine von vielen oder die Beste sein?‘“ Ihre Liebe zur Musik jedenfalls habe ihr ermöglicht, weiter zu gehen. Sie hat immer eigene Lieder geschrieben und komponiert, „diese kreative Seite hat dann übernommen. Und ich dachte, vielleicht ist Musik schreiben, komponieren, und dann aufführen die Seite, wo ich mich zu Hause fühle.“ Sie hat ihre eigenen Lieder dann vor kleinem Publikum probiert, war wahnsinnig aufgeregt, „weil das was anderes ist, als Musik zu interpretieren.“ Was sie machte, kam an. Aber ihr erstes Album „Time“ fällt genau mit dem Beginn der Pandemie zusammen. Alle Konzerte werden abgesagt. Ihr zweites, das sie während der Pandemie in Nordnorwegen schreibt, wohin sie sich mit ihrem Freund zurückzog, heißt folgerichtig: „Hibernation“ – Winterschlaf.

Berlin: Nach dem Studium 2013 arbeitet sie erst als Sängerin und Lehrerin. Weil sie aber weiter studieren will, Barockmusik nämlich, kommt sie schließlich nach Berlin. Die Stadt fängt sie ein. „Berlin repräsentiert für mich diese Freiheit von früher und bedient auch meine ‚Neugierigkeit‘ in Bezug auf das Chaos und die Herausforderungen in einer Gesellschaft“, sagt sie.

Chaos: Sie findet, Chaos ist ein Motor. Im Chaos müsse man sich dem Ungewissen öffnen. „Wenn Kulturen, Sprachen, Gewohnheiten aufeinandertreffen, kann das zwar stressig sein, doch dann kann ich mich entwickeln.“ Aber klar, sie brauche auch das Gegenteil, den Rückzug.

An der Wand hängen zwei Postkarten und eine Kinderzeichnung

Am Kühlschrank Abbilder von Natur. Dort geht sie wandern, dort fühlt sie sich frei Foto: Julia Baier

Texte: All diese Gegensätze tauchen in ihren Liedern auf. Sie besingt mutige Frauen und Männer, sie besingt Einsamkeit, sie besingt die Natur angesichts des Klimawandels. „In Nordnorwegen ist die Natur übermächtig und der Mensch klein. In Sachen Klimawandel aber glaubt der Mensch, er sei groß und die Natur klein.“ Sie hält das für einen Irrtum.

Die großen Fragen: Eines ihrer Lieder trägt den Titel „Elser“. Es ist Georg Elser, dem Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, gewidmet. Warum? „Weil ich mich frage, wie viel ich bereit wäre, für meine Freiheit zu opfern.“ Nur, eine Antwort gibt es auf diese Frage nicht. „Ich glaube sowieso, es ist schwierig, ein Mensch zu sein“, sagt Nordvik. Wieso glaubt sie das? „Es ist beides, schwierig und schön.“

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