Der Hausbesuch: Immer für die Erinnerung

Die Armenologin Tessa Hofmann hat in ihrem Leben viel gefunden: eine Muse, eine Liebe, ein Lebensthema. Was sie verloren hat? Den Glauben an Gott.

Die Armenologin Tessa Hofmann auf ihrem Sofa

Der Völkermord an den Armeniern ist Tessa Hofmanns Lebensthema Foto: Wolfgang Borrs

Tessa Hofmann ist Armenologin und liebt die Farbe Grün. In ihrem Leben hat sie mehr Zeit mit Katzen als mit Menschen verbracht. Ihre Muse war dennoch immer ihr Mann – bis zu seinem Tod.

Draußen: Die Straßenführung ist verwirrend. Die Schriftstellerin Ingeborg Drewitz fasste das mal so: „Eine kurze Straße in Berlin, die den Südwestkorso nach der Abgabelung von der Kaiser-Allee (heute Bundesallee) nach Unterquerung des Südringes der Berliner Stadtbahn noch einmal verbindet.“ Und die Häuser beschrieb sie so: „Bauzeit der Häuser: erstes Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, damals noch im Grenzbereich zu Kornfeldern hin. Westlicher Teil von Friedenau. Grundstücke meist hufeisenförmig um kleine begrünte Höfe gebaut.“ Drewitz kannte sich aus. Im Haus mit der Nummer 9 hat sie ihre „Lebenslehrzeit“ verbracht – von 1932 bis 1946, der Nazizeit. „Heute fährt die Straßenbahn nicht mehr. Sonst hat man fast das gleiche Bild, was sie damals sah“, sagt Tessa Hofmann, die nun in Nummer 9 lebt. Es fehlt eine Tafel am Hauseingang, die an die frühere Bewohnerin erinnert.

Gedenktafel: Die Entscheidung für eine Gedenktafel müssten außer Hofmann zumindest die Mehrheit der Hausgemeinschaft und der Hausbesitzer mittragen. „Ich schätze Drewitz als eine sehr bedeutende sozial- und zeitkritische Nachkriegsautorin, die mir durch ihr menschenrechtliches Engagement besonders sympathisch ist“, sagt die Soziologin, Publizistin und Menschenrechtlerin Tessa Hofmann. „Wir haben zwar nicht dieselbe Zeit, wohl aber denselben Ort geteilt, und zwar lange und intensiv.“

Drinnen: Die Tapeten im Schlafzimmer sind salbeigrün. Ein paar Töne dunkler bedeckt ein grüner Teppich den Boden des Wohnzimmers. Auf einem Wandbild prangt eine alte türkisfarbene Haustür, sie erinnert an ein jüdisches Stadtviertel in Budapest. Auch Hofmanns Kleid ist türkis und die Strickjacke darüber ist ebenfalls grün. Der fließende Übergang von Blau zu Grün ist hier überall zu sehen, bis zum Buchumschlag ihres historischen Romans „Tauben und Raben“. „Ich mag die Farbe. Grün beruhigt“, sagt Tessa Hofmann.

Kachelöfen: Auch die Glasur des Kachelofens in der Ecke des Wohnzimmers glänzt in Flaschengrün. „Diese Wohnung ist die einzige im Haus, in der noch Kachelöfen sind“, sagt sie. Kachelöfen in Jugendstil. Bis zum Vorjahr hat sie den Ofen noch benutzt, bis der Bezirksschornsteinfeger ihn wegen eines Defekts von innen hat zumauern lassen. Zwei dieser Öfen sind in den anderen Zimmern noch in Betrieb. Wegen des hohen Kohlendioxidausstoßes heizt sie aber nicht damit. „Erst wenn Wladimir Putin die Gasleitung kappt, werden sie angeworfen“, sagt sie halb ernst, halb scherzhaft. Ausschließen will sie nichts. „In meinem 70-jährigen Leben habe ich viele überraschende Wendungen erlebt“, sagt sie. „Wer hätte in meiner Jugend gedacht, dass die Sowjet­union zusammenbricht, dass es eine Wiedervereinigung gibt“, sagt sie. „Auch dass wir heute so eine Partei wie die AfD bekommen. Man hat doch geglaubt, dass so was nie wieder passieren kann.“

Begleitung: „Katzen waren meine Lebensbegleiter – vielleicht auch unfreiwillig“, sagt sie. Mal hat sie ein Tier aus dem Tierheim geholt, mal eines aus dem Ausland mitgebracht. „Ich habe mehr Lebenszeit mit Katzen als mit Menschen verbracht“, sagt sie.

Abschied: Tessa Hofmanns Mann, Lampros Savidis, hatte vor 17 Monaten eine schwere Hirnblutung. Sein Zustand verschlechterte sich, bis schließlich Wasser in die Lungen trat. Er starb im Sommer. „Es war ein langer Abschied“, sagt Hofmann und zitiert einen armenischen Dichter: „Nun gehört er zur schweigenden Mehrheit.“

Verwaltung: „Den Schmerz muss man ausleben, sonst wird man ihn wirklich nicht los“, sagt Hofmann, die über 20 Jahre mit ihrem Mann verbracht hat. Zum Ausleben kam sie allerdings lange nicht. Da sei mehr „Organisation statt Trauer“ gewesen, sagt sie. Die Bürokratie zwinge einen zu funktionieren. Spät abends starb ihr Mann im Pflegeheim. Noch in der Nacht wurde sie aufgefordert, ein Bestattungsunternehmen zu finden und am Morgen vor Ort zu erscheinen, um andere Dinge zu erledigen, Hinterlassenschaften wie Kleidung und Bücher zu entfernen und das Zimmer für einen anderen Menschen frei zu machen.

Muse: „Auch Männer können Muse sein“, sagt Hofmann. „Muse heißt nicht sanft und kuschelig. Muse heißt inspirieren“, erklärt sie. Ihr Mann habe ihre Kreativität geweckt und gefördert sowie ihr die griechische Kultur nahegebracht. Vor mehr als 20 Jahren lernten sie sich auf einer Fotoausstellung in Istanbul kennen. Sie interessierten sich für die Dokumentation des Pogroms 1955, als türkische Nationalisten einen gewaltigen Zerstörungsfeldzug gegen die griechische Bevölkerung in Istanbul führten. Sie wollten die Ausstellung nach Deutschland bringen, das gelang nicht. „Trotzdem haben wir uns näher kennengelernt und ziemlich bald geheiratet“, sagt Hofmann.

Kreativ sein: Das langsame Sterben mache ihr Angst. Nicht mehr kreativ arbeiten zu können wie ihr Mann in seiner letzten Lebenszeit, das sei eine schwere Vorstellung. Hofmann ist Armenologin, ein seltener Beruf für Menschen, die selbst nicht aus Armenien stammen. Sie promovierte in Slawistik und war jahrelang am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin tätig. Sie arbeitete zu multinationaler sowjetischer Literatur und spezialisierte sich auf das damals noch sowjetische Armenien. Nach ihren Studienaufenthalten in Sankt Petersburg, Tiflis und Jerewan kam sie mit ihrem Lebensthema zurück nach Berlin. „Das habe ich früh gefunden – in Armenien, mit Armenien, dank Armenien“, sagt sie.

Genozid: Seit über 40 Jahren setzt sie sich für die Anerkennung des türkischen Genozids an den Armeniern, Griechen und Aramäern ein. Am Schreibtisch sowie auf der Straße kämpfte sie um die Verurteilung der Todesmärsche, Massaker und Zwangsarbeit, bis der Deutsche Bundestag 2016 schließlich die Erklärung zum Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten 1915/1916 im Osmanischen Reich verabschiedete. Aus ihrer Sicht war das damals ein starkes Signal, eine Warnung für alle potenziellen Täter und solche, die sich mit den früheren Tätern identifizierten, sagt sie. „Anderenfalls besteht die Gefahr, dass der Völkermord von heute der vergessene Völkermord von morgen ist“, sagt sie.

Heute: „Ich habe Arzach erstmals 1995 besucht, darunter auch den Friedhof von Stepanakert. Ich stand an den zahlreichen Gräbern junger Karabach-Armenier, die bei der Verteidigung ihrer Heimat gefallen waren“, erzählt Hofmann. Die aktuellen Angriffe Aserbaidschans auf Arzach machen ihr Sorgen. Sie denkt jetzt viel darüber nach, was mit den 150.000 Armeniern in der Region geschehen wird. Im Sommer habe sie Videoaufnahmen von Großkundgebungen in Baku gesehen. Auf ihnen wurde die Eroberung Karabachs gefordert und das Grauwolf-Symbol der Ultranationalisten gezeigt.

Nachrichten: Das mediale und öffentliche Interesse an diesem Krieg sei ebenso kurzlebig wie an vielen anderen. „Karabach wird erneut in Vergessenheit geraten, sobald die Waffen für eine Weile schweigen“, fürchtet sie.

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Gott: Hofmann hat sich eine Regel gegeben. Wenn man sich jahrzehntelang mit dem größtmöglichen Verbrechen der Menschheit beschäftigt, muss man eine Barriere errichten, um die eigene Sensibilität nicht zu verlieren. „Was man aber ganz bestimmt verliert, ist der Glaube an Gott“, sagt sie. „Falls es einen Gott überhaupt gibt, ist er entweder nicht allmächtig oder nicht gütig. Sonst hätte er nicht Auschwitz zugelassen, sonst hätte er nicht zugelassen, dass unzählige armenische Kinder lebendig verbrannt oder brutal getötet wurden“, sagt sie. Nach der Lektüre von Erinnerungen der Zeitgenossen könne sie ein solches Gottesbild nicht mehr aufrechterhalten. „Es erscheint naiv“, sagt sie.

Gedenkstätte: Hofmann hat eine Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich auf dem Berliner Evangelischen Luisenkirchhof initiiert. Es ist ein würdevoller und einzigartiger Ort des gemeinsamen Gedenkens und der Mahnung der Armenier, Aramäer und Griechen.

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