Der Hausbesuch: Leuchten über Moskau
Es war ein weiter Weg, ehe Bella Jakubova nach Deutschland kam. Mitten in Berlin wohnt sie nun und liest Philosophen.
Seit 22 Jahren wohnt Bella Jakubova, 84, in der Leipziger Straße in Berlin. Geboren wurde sie in Charkov, einer Stadt in der damaligen Ukrainischen Republik der Sowjetunion. In Zeiten des Krieges musste sie ihre Heimat verlassen. Danach lebte sie viele Jahre in Moskau. Mit 61 Jahren zog sie schließlich nach Deutschland.
Draußen: Die Leipziger Straße ist eine der wichtigsten Durchfahrtsstraßen Berlins. In der Zeit der deutschen Teilung war sie eine Sackgasse – am Potsdamer Platz endete sie an der Mauer. Nach der Wiedervereinigung erhielt die Straße ihre Bedeutung zurück. Hochhäuser, die in den 70er Jahren während des Wiederaufbaus Ostberlins gebaut wurden, säumen sie. Das Haus Nummer 43 ist ein 22-stöckiger, weiß-blauer Plattenbau, acht Wohnungen auf jeder Etage; eine davon gehört Bella Jakubova.
Drinnen: Drei Zimmer, eines davon ist Bellas Lieblingszimmer, dort verbringt sie die meiste Zeit. 18 Quadratmeter groß, alles hat seinen Platz: Sofa, Tisch, vier Stühle, Fernseher, zwei Kommoden und Schränke mit Büchern. Gemütlich ist es. An den Wänden Gemälde mit Landschaften in verschiedenen Jahreszeiten, vor den Fenstern gelbe Vorhänge, in der Vitrine vielfarbiges Porzellan und Glas. Auf einem großen, weichen Sofa drei Kuscheltiere: zwei Teddybären und ein Hündchen. Bella Jakubova sitzt am großen Tisch in der Mitte des Zimmers. „Das ist meine Welt, hier wohne ich schon seit fast 22 Jahren. Hier möchte ich den Rest meines Lebens bleiben.“
Kindheit und Krieg: Bella ist ein Kind des Krieges. Als er begann, war sie acht Jahre alt. „Über den Krieg informierte uns niemand, damit wir keine Angst bekommen. Stattdessen sangen wir Lieder: ‚Unsere Panzer sind stark und schnell …‘ Oft weckte man uns in der Nacht, damit wir uns verstecken.“ Luftalarm. Bald veränderte sich ihre Heimat Charkov völlig: Nachts war es total dunkel, die Fenster wurden von den Familien bedeckt, Parks und Boulevards waren leer. Es gab keine Kinder mehr. Gut erinnert sich Bella an den Tag ihrer Abreise aus Charkov. Es war der 30. September 1941: „Wie meine Mutter die Tür unserer Wohnung mit dem großem Schlüssel verriegelte. Ich fragte mich damals: Kehren wir bald zurück? Nein, es war ein Abschied für immer.“
Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Langer Weg in den Ural: In sogenannten Kälberwaggons, auf russisch Tepluschki, fuhr Bella mit vielen anderen mit dem Zug nach Perm im Ural. Draußen waren die Wagen mit Tarnfarben bemalt und mit Zweigen abgedeckt. „Als wir Charkov noch kaum verlassen hatten, hatte man das erste Baby aus einem Waggon direkt im Wald begraben“, sagt sie.
Evakuierung: Der Weg nach Perm dauerte 15 Tage. Bei ihrer Ankunft kamen sie und ihre Mutter bei einer Familie unter. Nach einem Monat wurde ihnen ein neun Quadratmeter großes Zimmer gegeben, in einem zweistöckigen Haus aus Holz. Strom gab es keinen, auch nicht die anderen Annehmlichkeiten, die sie als Städter gewohnt waren. Bella blieb fast immer alleine zu Hause und sah ihre Mutter fast nie: „Mutter arbeitete im Flugzeugwerk, das aus Charkov nach Perm evakuiert worden war. Sie ging, als ich noch schlief, und kam nach Hause, als ich wieder eingeschlafen war.“ Die Wasserquelle lag hundert Meter vom Haus entfernt, es war schwierig für sie, einen Eimer mit Wasser durch die Kälte zu schleppen. „Wir litten unter dem Frost und waren ständig hungrig. Ich träumte von Fleischkoteletts, die ich einst im Kindergarten abgelehnt hatte.“
Das Leben nach dem Krieg: Seit Anfang 1942 zogen die Arbeiter des Flugzeugwerks nach und nach mit ihren Familien nach Moskau um. Zuerst Bellas Vater, nach fast einem Jahr sie mit der Mutter hinterher. „Wir waren in einem der Räume des Moskauer Luftstreitkräfteinstituts untergebracht. Es gab keine einzige Bombardierung, aber oft erhellten zu Ehren der Sowjetarmee Salutschüsse den Himmel.“ Nach dem Schulabschluss immatrikulierte sich Bella im Moskauer Finanzinstitut, später wurde sie in Wirtschaftswissenschaften promoviert.
Buchhaltung: Von Beruf ist Bella Buchhalterin. Viele Jahre arbeitete sie bei einem Chemiewerk, danach beim Hauptstatistikbüro der Sowjetunion. Sie ist schon lange im Ruhestand, aber bis heute mag Bella ihren Beruf. Wenn sie darüber spricht, ist sie kaum zu stoppen. Es funkelt dann so schön in ihren Augen. Sie hat auch ein Buch darüber geschrieben. Es heißt „Rechnungswesen und Analyse“, Auflage 12.000 („Irgendwie konnte ich diese komplizierten Sachen schon immer in einfache Worte fassen und damit dem Nachwuchs helfen“). Sie holt ein Exemplar aus dem Schrank und blättert seine Seiten durch („Das Buch ist noch heute aktuell, weil Buchhaltung immer und überall Buchhaltung ist“).
Umzug nach Deutschland: Im 1994 zog Bella nach Deutschland. Zusammen mit ihrem Ehrmann, ihrer Mutter und Schwiegermutter. Sie hätte nie gedacht, dass sie eines Tages in Deutschland leben würde: Sie wollten nach Amerika auswandern, bekamen aber kein Visum. Während sie auf die Entscheidung der US-Botschaft warteten, starb ihr Vater. Dann beschlossen sie, gemeinsam nach Deutschland zu ziehen. Etwa ein Jahr lebten sie in Brandenburg. Danach zogen sie nach Berlin, in die Wohnung auf der Leipziger Straße. „Hier mussten mein Mann und ich wieder an Schülerschreibtischen sitzen, um Deutsch zu lernen. Mir ist es ziemlich leicht gefallen.“
Poesie: Bella schreibt Gedichte, am liebsten übersetzt sie aus dem Deutschen ins Russische („Für mich das beste Mittel, mein Gehirn und Gedächtnis im normalen Zustand zu behalten“). 2011 starb ihr Mann, einige Jahre davor waren ihre Mutter und Schwiegermutter gestorben. Nun war Bella allein. Sie wollte mit jemandem reden, aber sie hatte nicht so viele Bekannte in Berlin. Mit der Zeit fand sie im „Russischen Haus“ in der Friedrichstraße Anschluss an literarische Kreise, 2012 veröffentlichte sie ihren ersten Artikel – ihre Erinnerungen an die Kindheit und im Zweiten Weltkrieg.
Philosophie: In ihrem Bücherregal stehen viele philosophische Werke („Ich lese gerne Schopenhauer, Kant und de Montaigne“). Gerade hat sie sich Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ vorgenommen, es liegt auf ihrem Tisch („Ich habe oft gehört, dass dieses Buch lesenswert ist. Also habe ich es mir gekauft“).
Wie findet sie Merkel? Zwei Mal ist ihr Merkel in einem Lebensmittelgeschäft begegnet. Mit einem Lächeln berichtet sie davon, während sie auf ihr Tagebuch schaut. Für die Politik interessiert sie sich aber kaum: „Es fällt mir schwer, Genaueres über Merkel und ihre Politik zu sagen. Niemand weiß, was in dieser schwierigen Situation eine gute Entscheidung ist. Das ist mit Putin nicht anders. Die richtige Antwort kenne auch ich nicht.“ Manche Leute in Deutschland schätzten Merkel, weil sie willensstark sei. In der Flüchtlingskrise habe die Bundeskanzlerin das bewiesen. „Sie hat viel riskiert, aber nicht so richtig an die Folgen gedacht.“
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!