Der Grüne Robert Habeck über Wohlstand: "Wir brauchen keine Autofirmen"
Seit der grüne Fraktionschef Robert Habeck nicht mehr das Wirtschaftswachstum, sondern 21 andere Kriterien für Wohlstand zur Hand nimmt, ist Schleswig-Holstein plötzlich ein Musterland.
taz: Herr Habeck, sind "weniger Autos natürlich besser als mehr Autos", wie es der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann gesagt hat?
Robert Habeck: Ja, das sehe ich wie Kretschmann. Und die wenigeren Autos müssen weniger Benzin verbrauchen als heute.
Ist Kretschmann bei seinem Versuch, das Denken über Wirtschaft zu verändern, zu dröge oder zu forsch?
Ich finde, Kretschmann macht das cool. Ich stehe auf Menschen, die klar sagen, was Sache ist. Und ich wünsche mir das auch von Ministerpräsidenten. Das ist doch das, worunter wir alle leiden: dass Leute nur noch in Phrasen reden, aus Angst vor Lobbys oder davor, irgendwo anzuecken.
Winfried Kretschmanns Kritiker vom kleineren Koalitionspartner SPD sagen, dass weniger Autos auch weniger Wohlstand bedeuten.
Das ist aber falsch. Vermutlich werden weniger Autos noch nicht mal zu weniger Wirtschaftswachstum führen, sondern zu neuen Branchen. Ganz sicher aber nicht zu weniger Wohlstand. Das kann aber die alte Wachstumstheorie, orientiert am Bruttoinlandsprodukt, nicht beschreiben - und die SPD nicht begreifen.
Robert Habeck, 41, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein. Mit ihm als Spitzenkandidat holten die Grünen bei der Landtagswahl 2009 mit 12,4 Prozent das bisher beste Ergebnis seit Gründung. Die nächste Landtagswahl steht im Mai 2012 an. Derzeit liegen die Grünen in Umfragen um die 22 Prozent, die CDU um die 33 Prozent, die SPD um die 31 Prozent.
Schleswig-Holsteins Grüne versuchen, einen "nationalen Wohlfahrtsindex" ("NWI") gegen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu positionieren und damit eine neue Sicht auf Wachstum, Umwelt und Lebensqualität.
Der NWI wurde in einer vom Umweltbundesamt in Auftrag gegebene Studie unter der Leitung der unabhängigen Forscher Hans Diefenbacher, Roland Zieschank und Dorothee Rodenhäuser entwickelt.
Eine von den Grünen In Schleswig-Holstein in Auftrag gegebene Studie besagt, dass in dem als "wirtschaftsschwach" verschrienen Schleswig-Holstein der Wohlstand nach den Kriterien des NWI wächst – im Gegensatz zu der auf Grundlage des BIP beruhenden Einschätzung. Während das BIP mit plus 0,2 Prozent fast stagniert, ist der NWI in Schleswig-Holstein in einem Jahrzehnt um 9,4 Prozent gestiegen. Deutschlandweit fiel der NWI in dieser Zeit um 3,2 Prozent.
Die Studie misst positive und negative Kriterien, darunter auch Einkommensverteilung, Wasser- und Luftverschmutzung, CO2-Belastung, ehrenamtliche und häusliche Arbeit, Schäden durch Tabak-, Alkohol- und sonstigen Drogenmissbrauch, Schäden durch Verkehrsunfälle, Kriminalität, sowie Veränderungen der Kapitalbilanz. Am 8. Juni wird das "grüne BIP" auf einem Wirtschaftskongress in Kiel vorgestellt.
Sie haben eine wissenschaftliche Studie erstellen lassen und wollen Wohlstand künftig mit einem "nationalen Wohlfahrtsindex" statt mit dem Bruttoinlandsprodukt messen.
Genau. Die Wachstumsdebatte ist ja nicht neu. Neu ist, dass es tatsächlich gelingt, Wohlstand zu beschreiben - nicht blumig oder wortreich, sondern indem ökologische oder soziale Folgen einen monetären Wert erhalten.
Wirtschaftswachstum und Wohlstand werden entkoppelt?
Das ist nicht zwingend so. Aber das Wachstum einer Gesellschaft führt nicht automatisch zu mehr Wohlstand einer Gesellschaft. Eine Ölpest, die aufwendig beseitigt werden muss, Atomkraft, Kohlekraftwerke - das klassische BIP muss das alles toll finden, weil es die Wirtschaft ankurbelt. Das ist doch absurd. Die Studie übersetzt CO2-Ausstoß, Lärm, Schadstoffe, Verkehrstote, aber auch soziale Ungleichheit in monetäre Einheiten und rechnet sie gegen. Es handelt sich also nicht um gefühliges Zeugs.
Tut es nicht?
Tut es nicht. Man kann innerhalb des Ansatzes die verschiedenen Parameter kritisieren, andere ergänzen oder die Faktoren anders bewerten. Das muss auch so sein, bei einem Pionierprojekt. Aber eine solche Debatte abzulehnen heißt, Industriepolitik des letzten Jahrtausends zu betreiben.
Schleswig-Holstein wird bei Ihnen zum Musterland, während es für Gesamtdeutschland abwärtsgeht. Kritiker monieren, Sie rechneten sich Ihr BIP-Kellerkind schön.
Mir geht es nicht um Musterland, Selbstzufriedenheit oder Schönrechnen. Und die pauschale Kritik übersieht das Wesentliche. Das ist nicht die summarische Zusammenfassung, sondern die Details, aus denen sich Handlungsrichtlinien für politisches Tun ableiten lassen. Die allerdings sind sehr anders als die Schlussfolgerungen, an die Union oder SPD glauben, von der FDP gar nicht zu reden.
Es ist trotzdem verblüffend, dass Schleswig-Holstein urplötzlich ein Musterland sein soll.
Das ist nicht verblüffend, das entspricht viel mehr der Wahrnehmung der Menschen hier als Ihr Kellerkindgerede. Die Leute leiden doch nicht darunter, dass wir keine extreme Einkommensspreizung haben, freuen sich, wenn die AKWs abgeschaltet werden und es keine Maismonokulturen gibt. Das Land hat Schwächen, es ist bei den Bildungsabschlüssen zurück, hat zu wenig Hochschulabsolventen und entwickelt zu wenige Patente. Aber die vermeintliche Hauptschwäche, keine Großindustrie und Exportindustrie zu haben, ist tatsächlich seine Stärke. Wir brauchen hier keine große Auto- oder Petroindustrie. Das Potenzial liegt bei den Life-Sciences, der Bioökonomie, neuen Produktionsketten, einer Renaissance der Landwirtschaft, den Erneuerbaren mit all ihren Verästelungen.
In die Höhle wollen Sie demnach nicht zurück?
Das müssen Sie wohl fragen. Aber das ist ausdrücklich keine De-Wirtschaftsstrategie, sondern eine, die zum ersten Mal für ein Bundesland entlang von definierbaren - und das heißt ausdrücklich auch kritisierbaren - Strategien zu anderen wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen kommt, als es auf den Grundlagen des BIP geschieht. Politisch verändert sich dadurch die ganze wirtschaftspolitische Debatte.
Zu Ihren Gunsten wohl?
Logo, sonst wäre es ja witzlos. Die Ansage ist, dass jetzt die konventionellen Wachstumstheoretiker nachweisen müssen, warum es ausreichend ist, weiter an einem qualitätsblinden Wachstumsbegriff festzuhalten. Nehmen Sie eine Straße, die zu vielen Unfällen führt. Davon profitieren Abschleppunternehmen, Autoindustrie, Polizisten, Krankenhäuser und am Ende die Sargindustrie. Eine super Sache für das BIP, aber ein Riesenunglück für die Opfer. Deshalb muss man Verkehrstote, Lärm und so weiter negativ einrechnen. Dann kann man beweisen, dass eine solche Straße nicht nur ethisch falsch ist, sondern auch nicht wirtschaftsfördernd.
Wenn weniger Särge gebraucht werden, muss der wackere Sarghändler seine treuen Angestellten entlassen.
Diese Branche hat ja irgendwie immer Konjunktur. Aber grundsätzlich stimmt das: Wirtschaftliche Transformation bedeutet: Alte Arbeitsplätze fallen weg. Das gilt ja auch für Kohlekraftwerke und die Atomindustrie. Aber das ist kein Grund, die AKWs weiterlaufen zu lassen. Dafür entstehen neue Arbeitsplätze. Natürlich in erneuerbaren Energien, aber auch beim Abbau der AKWs. Wir eruieren das gerade: Welche Branchen werden gebraucht und welche Arbeitsplätze entstehen, wenn Krümmel und Brunsbüttel jetzt geschleift werden? Eine aufregende Frage.
Wenn Sie Ihr grünes BIP durchsetzen wollen, brauchen Sie als Basis eine neue gesellschaftliche Vorstellung von Lebensglück - oder gar eine neue Ideologie?
Im Gegenteil: Wir lösen uns von der weltanschaulichen Debatte, die es ja gibt. Wir lassen sowohl Wachstumsgläubige als auch Wachstumskritiker einfach stehen, übersetzen ehemals ideologische Fragen in ökonomische Faktoren und kommen zu einer Objektivität, die die Gesellschaft neu beschreiben kann.
Wie definieren Sie denn Ihr gutes Wachstum?
Nicht mehr schädliche Wirkungen als gute auslösen.
Was heißt das konkret für ein modernes Unternehmen, das energieeffiziente Produkte herstellt? Möglichst viel Wachstum oder keines?
Es geht darum, ein Wachstum zu steuern, das den Zustand einer Gesellschaft besser macht. Die Idee, kein Wachstum zu haben, mag für eine schrumpfende oder saturierte Gesellschaft wie die deutsche attraktiv sein. Aber global gesehen wäre ein Wachstumsstopp verantwortungslos. Dafür gibt es zu viel Armut in Gesellschaften. Aber Wachstum darf nicht die Rendite von wenigen Aktionären erhöhen, sondern muss den Wohlstand einer Gesellschaft insgesamt erhöhen.
Das leisten energieeffiziente Produkte?
Wenn eine Firma viele Motoren verkauft, die deutlich energiesparender sind, dann ist das gutes Wachstum. Wenn weniger Lärm, CO2 und Schadstoffe in die Umwelt eingehen, verbessert sich der Wohlstand eines Landes. Diese Produkte muss die Politik fördern.
Wenn man mit besseren Motoren viel mehr Autos produziert, werden sich die Schäden trotzdem erhöhen.
Wenn das passiert, muss man politisch handeln. Zum Beispiel mit höheren Kfz-Steuern oder Maut. Es spricht aber nicht gegen die Methodik oder gegen qualitatives Wachstum.
Können Sie mit so einer anspruchsvollen Diskussion Ministerpräsident werden, Herr Habeck?
Es gibt ja schon einen grünen Ministerpräsidenten, der dieses Umdenken mit seinem Amtsantritt angestoßen hat. Auch Frau Merkel hat gesagt, dass wir eine neue Wachstumsberechnung brauchen. Die Debatte ist also da.
Würden Sie sich der Frage zuwenden?
Und um nicht in Ihre Falle zu tappen, antworte ich: Niemand, der sich nicht solche Fragen zumutet, sollte mehr Ministerpräsident werden.
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